«Wer hat mit mir gelitten?»

Das Regiekollektiv Rimini Protokoll hat moderne Lebensläufe zu einer klugen und unterhaltsamen Collage verknüpft - frei nach Schillers «Wallenstein».

Von Irene Grüter

06.07.2006 / Züritipp

Ein Mann im Fussballdress schreitet auf und ab und rezitiert Verse. Ab und zu schaut er in sein Reclam-Heft, wiederholt die Worte, bis er sie auswendig weiss. Friedemann Gassner ist kein ausgebildeter Schauspieler, sondern Elektromeister in Mannheim. Nachdem ihn seine Frau verlassen hatte, habe er Schillers Sprache ins Herz geschlossen, erzählt er dem Publikum und zitiert den letzten Satz aus dem Prolog zu «Wallenstein»: «Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst» - eine der wenigen Stellen aus Schillers Trilogie, die an diesem Abend original zu hören sind.

Wieviel Freiheit hat der Mensch?

Als «dokumentarische Inszenierung» bezeichnen Helgard Haug und Daniel Wetzel ihr zweistündiges «Wallenstein»-Projekt, das vor einem Jahr für die Internationalen Schillertage in Mannheim entstanden ist und im Mai zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. «Frei nach Schiller», könnte man hinzufügen, denn normalerweise dauert eine Aufführung des dramatischen Gedichts mindestens zwei Abende. Die beiden Regisseure, die zusammen mit Stefan Kaegi das Theaterkollektiv Rimini Protokoll bilden, haben Kernfragen aus dem monumentalen Werk über die Wirren des Dreissigjährigen Kriegs herausgegriffen: Welche Freiheit bleibt dem Individuum im Gesellschaftsgeflecht? Wie verhält es sich in hierarchischen Strukturen? Wie funktionieren die Spielregeln der Macht?

Die Antworten suchen sie in Biografien der Gegenwart: Zwei Vietnam-Veteranen und ein ehemaliger Flakhelfer berichten aus der Sicht der einfachen Soldaten von den Gesetzen des Kriegs. Ein Mitglied der Weimarer Polizeidirektion erzählt über seinen Konflikt zwischen Karriere und Beziehung, als er sich zu DDR-Zeiten in eine Frau verliebte, die nicht regimetreu war. Und die Inhaberin einer Seitensprungagentur erklärt, warum Liebe als Geschäft zu begreifen ist. Ihr Handy lässt sie auch während der Vorstellung klingeln, denn: «Meine Erreichbarkeit ist mein Kapital.»

Auf der Bühne stehen zehn Menschen aus der Umgebung von Mannheim und Weimar, die nie zuvor mit Theater zu tun hatten. Sie spielen keine Rollen, sondern stellen sich selbst dar, als hätten sie ihren Platz im grossen Welttheater bereits durchschaut. Diesen Eindruck erweckt zumindest Dr. Sven-Joachim Otto, der von seinen Erfahrungen im Polittheater erzählt. Eine Reihe von Plakaten der CDU zeugt vom Wahlkampf, den er vor sechs Jahren um das Amt des Oberbürgermeisters in Mannheim geführt hatte. Flankiert von seiner Frau, einem geliehenen Hund und den Kindern seiner Geschwister, lächelt er dem Publikum in serieller Vervielfachung zu, während der leibhaftige Dr. Otto auf der Bühne erläutert, warum Spaghetti mit Tomatensauce sein politisch korrektes Lieblingsessen sei: «Damit eckt man nicht an», sagt er und gesteht, eigentlich Bolognese vorzuziehen. Er wurde zwar nicht Bürgermeister, erzielte aber erstaunlich gute Resultate. Doch bei der nächsten Wahl liessen ihn seine Parteikollegen nach internen Absprachen im Stich - und er war der Letzte, der von seiner Niederlage erfuhr.

Exemplarische Lebensläufe

Auch wenn die Mannheimer Wahlen nichts mit dem Dreissigjährigen Krieg zu tun haben und Dr. Otto nur als Protagonist in einer Provinztragödie auftrat, ist seine Geschichte so grausam wie der Aufstieg und Fall Wallensteins, des charismatischen und machthungrigen Feldherrn, der am Ende einem Verrat zum Opfer fällt. Nach seinem Monolog über die Vergeblichkeit stellt Dr. Otto dem Publikum die Frage: «Wer hat mit mir gelitten?» Fast alle Hände gehen hoch.

Dann fragt er: «Wer hätte mich damals gewählt?» - Es meldet sich niemand, und dieser Moment ist tragischer, als wenn Dr. Otto Wallensteins Tod auf der Bühne hätte nachspielen wollen. Denn trotz seiner Lust an der ironischen Selbstdarstellung wissen die Zuschauer, dass er nicht aus seiner Rolle kann, wenn die Vorstellung zu Ende ist. Das macht das Faszinierende und Verwirrende dieser witzigen und tiefsinnigen Collage von Lebensläufen aus, die nicht nur Schillers «Wallenstein», sondern auch die gesellschaftlichen Spielregeln der Gegenwart kommentiert.

Zürich, Schiffbau, Halle 1 Do 6. und Fr 7.7., 20 Uhr; Sa 8.7., 19 Uhr


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