Virtueller Stau in NRW

Wie Stückfracht gehen Zuschauer im umgebauten Lastwagen auf die Reise durch Europa. Das Konzept-Art-Theater-Projekt "Cargo Sofia" von Stefan Kaegi startet am PACT Zollverein in Essen

Von Peter Ortmann

10.07.2006 / taz

Die Essener Huren auf der Pferdebahnstraße staunen nicht schlecht, wenn der Lastwagen direkt vor ihnen Halt macht und sie sich plötzlich einem Zuschauerraum gegenüber sehen, von wo aus 47 Menschen herüber starren. Der umgebaute Frachtraum des Trucks, die linke Außenwand wurde verglast und drinnen Bänke installiert, ist Teil eines mobilen Theaterprojekts, das die Außenwelt zur Bühne und Passanten unfreiwillig zu Schauspielern macht. Dazu die merkwürdige Kriminal-Geschichte der Internationalen Spedition von Willi Betz transportiert.

Wenn der Laster mit den beiden bulgarischen Profi-Truckern von der Essener Zeche Zollverein loszuckelt, ist die verglaste Wand noch geschlossen. Ein Videofilm gaukelt eine Reise quer durch Europa vor. Stückgut per Truck. Bis nach Italien soll die zweiwöchige Fahrt über zahlreiche Autobahnen gehen. Ventzislav Borrissov und Svetoslav Michev haben das schon hunderte Male gemacht. Erzählen nebenbei via Headphone Geschichten über ihre Familien, über die stundenlangen Staus an Grenzen und die immer noch notwendigen Bestechungsgelder an Zöllner in Osteuropa. Als Laufband erscheint der erste Hinweis zu Willi Benz, dessen Machenschaften nicht nur den roten Faden liefern, sondern sich bruchstückhaft erst am Ende der Reise zu einem Gesamtbild zusammengesetzt haben. 1982 zahlte er jedenfalls das erste Bakschisch in Bulgarien, hatte seit 1945 bereits ein Speditionsimperium aufgebaut. Später übernahm er dort die ehemalige Staatsspedition SOMAT mit der Zentrale in Sofia. Im März 2003 gab es eine Großrazzia in der Reutlinger Zentrale und in mehreren europäischen Betz-Standorten, an der mehr als 600 Beamte beteiligt waren. Seine meist bulgarischen Fahrer sollen keine Genehmigungen gehabt, aber quer durch Europa die 9.000 LKWs bewegt haben, zu osteuropäischen Konditionen, versteht sich. Auch Ventzislav und Svetoslav können ein Lied singen vom harten Leben der Autobahn-Cowboys und tun dies auch ständig, während das fahrende Theater real zwei Stunden durch Essens Hafen- und Gewerbezonen donnert.

Park-Schleusen in der Deutschen Textil Logistik oder im neuen Fuhrpark der Stadt ersetzen die nervenden Grenzübergänge. "Hier hat der Krupp einst seine Waffen getestet", sagt ein Nebenmann im LKW, der im Kopf immer noch durch seine Heimatstadt gekarrt wird und längst noch nicht im virtuellen Slowenien angekommen ist, trotz der eingespielten fremden Geräusche und der Balkan-Musik, die eine junge Frau (Alexandra Dimitroff) live singt, dazu immer wieder wie ein Mysterium in der Stadt auftaucht.

Die Mischung aus Konzept-Art, Ready-Made und Theater von Stefan Kaegi geht dennoch auf, die virtuelle Reise wird verinnerlicht, viele verlieren mobil die Vorstellung von Zeit, Raum und Örtlichkeit. Kaegis Theater ist konsequent, verlassen kann den Truck niemand während der Fahrt, schon gar nicht Türen schlagend. Der Schweizer arbeitet sowohl alleine, als auch mit Helgard Haug und Daniel Wetzel unter dem Label Rimini Protokoll, an Formen dokumentarischer Intervention. Sein "Cargo Sofia" Projekt reist anschließend selbst durch ganz Europa. Denn in den großen Metropolen sehen die Industrieviertel alle gleich aus und die Fahrer, die dort ihre Fracht umschlagen und die der Regisseur immer vor Ort fürs Projekt anheuert, haben zwar alle Länder Europas gesehen, kennen die Städte aber nur von ihren Ausfahrtsschildern. Im Zentrum von Kaegis Arbeit stehen immer Menschen in ihrer sozialen Rolle, in ihrem Arbeitsverhältnis: In "Mnemopark" (2005) rekonstruierten Basler Modelleisenbahner die Schweiz als artifiziellen Bauernstaat, in "Call Cutta" (2004) ließ er zusammen mit Rimini Protokoll indische Callcenter-Telefonisten Berliner Zuschauer via Mobiltelefon durch ein ihnen unbekanntes Kreuzberg steuern.

Jetzt steuern die beiden netten Bulgaren ihre lebende Fracht sicher durch Essen. Kurzfristig auch begleitet von Wolfgang Nerlemann von der NRW Autobahnpolizei, der den Truckern manchmal das Leben schwer machen muß. Der Beamte, der bei blauen Schildern inzwischen Heimatgefühle entwickelt hat, ist sich seiner theatralen Wirkung bewußt und immer für einen lockeren Spruch zu haben: "Sagt der zu mir: Machen Sie doch keinen Quatsch" - Sag ich: "Nee, mach ich nicht, ich mach bei Ihnen eine Blutprobe". Nerlemann eskortiert den Theater-Truck dann zu ACDC-Rock über die A40. Svetoslav Michev zeigt derweil via Videokamera Familienbilder.

 

 

 

 


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