Vergnüglich und intelligent

Rimini Protokoll: Karl Marx: Das Kapital, Band 1 (DLF)

Von Jochen Meißner

01.07.2007 / Funkkorrspondenz FK 47/2007

In seiner Frühzeit bemühte das Hörspiel gerne mal die Metapher der Blindheit, um sein Alleinstellungsmerkmal, nämlich das Akustische, zu betonen. Dass es echte Blinde ins Hörspiel oder, wie im Fall der Inszenierung von Band 1 des Marxschen „Kapitals“ durch die Gruppe Rimini Protokoll (Helgard Haug und Daniel Wetzel), auf die Theaterbühne schaffen, ist eher selten – wäre da nicht Christian Spremberg, geburtsblinder Callcenter-Agent mit Entertainment-Qualitäten und einer großen Plattensammlung, der auf der Bühne aus den großformatigen Blindenbänden des „Kapitals“ zitiert, die der Marx-Forscher Thomas Kuczynski in einem Einkaufswagen auf die Bühne rollen muss. Eine völlig verrückte Idee, meint der, ein wirtschaftswissenschaftliches Buch von 750 Seiten in ein 50-Minuten-Hörspiel quetschen zu wollen. Dann müsste man alle vier Sekunden die Seite wechseln, alle acht Sekunden umblättern und für jede Zeile bliebe etwa ein Zehntelsekunde Zeit. Mit dem „Kapital“ als Hörbuch wird es in solch komprimierter Form also nix. Und auch das 100-minütige Bühnenstück schafft es nicht, den Inhalt des Buchs angemessen abzubilden.
Soll es auch gar nicht. Haugs und Wetzels Inszenierung „Karl Marx: Das Kapital, Band 1“ handelt von echten Menschen – im Rimini-Jargon „Experten“ genannt –, in deren Leben dieses Buch eine Rolle gespielt hat. Der Filmemacher Talivaldis Margevics gehört dazu, der als Kind einmal fast zur Ware geworden wäre, als eine Polin ihn seiner Mutter auf dem Weg nach Russland abkaufen wollte. Der Maoist und Unternehmensberater Jochen Noth ist dabei, der in den 1970 Jahren nach China emigrierte und seine heiligen Bücher von Marx bis Stalin in die Theaterproduktion entsorgt hat. Und auch der Buchautor Ulf Mailänder ist mit von der Partie, der die Autobiografien (!) von so großen Wirtschaftskriminellen wie Jürgen Schneider und Jürgen Harksen verfasst hat. Über sich selbst sagt Mailänder: „Manche sind Hochstapler, manche tun nur so.“ Ein Ex-Gewerkschafter und Ex-Spieler gehört schließlich ebenso dazu wie eine Übersetzerin, ein Mathematiker und eine Prostituierte. Letztere taucht nur im Hörspiel auf und wird dankenswerterweise nicht als Demonstrationsobjekt für irgendwelche Tausch- oder Gebrauchswerte missbraucht, sondern erzählt von der fetischhaften Besetzung von Waren – zum Beispiel von Strümpfen.
Die Struktur des Hörspiels (einer Koproduktion von Deutschlandfunk und WDR) ist anspruchsvoller, als man es nach dem ersten Hören meint. Es gesteht sich dabei ein, dass es dem Inhalt des Buchs nicht gerecht werden kann, und stellt stattdessen seine Materialität aus. Es verschweigt nicht nur nicht, dass es auf einer Theaterinszenierung basiert, sondern unterstreicht dies auch durch einen live eingesprochenen Kommentar von der Hinterbühne noch – und macht es dadurch radiophon. Es nutzt ironisch die akustischen Möglichkeiten des Mediums und beschleunigt die Buchzeilen tatsächlich auf völlig unverständliche Zehntelsekunden. Kurz: Im Hörspiel findet die Inszenierung von „Karl Marx: Das Kapital, Band 1“ eine eigene Form, die nichts von einer Zweitverwertung hat. Deshalb lohnt es sich, nach dem Hören dieses höchst vergnüglichen und intelligenten Stückes noch in die Theaterinszenierung zu gehen. Man wird sich nicht langweilen.


Projekte

Karl Marx: Das Kapital, Erster Band (Hörspiel)