Taschentuch und Tischtennisball

Das KunstenFestival des Arts in Brüssel zeigt neue Arbeiten von Rimini Protokoll, Forced Entertainment, Edit Kaldor und Lone Twin

Von Florian Malzacher über Sabenation

11.05.2004 / Frankfurter Rundschau

Gelb und grün. Merkwürdig, wie die Farben des Brüsseler KunstenFestivalDesArts überall präsent sind - es braucht eine Weile, bis man merkt, dass das kein Zufall ist. Auf der Rue Dansaert, also rund um das Festivalzentrum in der Beursschouwburg, haben vor allem Klamotten- und Designerläden ihre Auslagen festivalgerecht gestaltet. Ein Marketing-Gag, natürlich. Aber eben doch auch ein Zeichen dafür, dass das Festival in seinem neunten Jahr ein Ereignis für die Stadt geworden ist, das über die - immerhin mehr als zwanzig - eigentlichen Schauplätze hinausreicht.

Erste Adresse

Ohnehin ist das "Kunsten" längst eine erste Adresse für das internationale Netzwerk jener Theaterformen geworden, bei deren Benennung man sich jedes Mal aufs Neue schwer tut: experimentelles, freies, neues, avanciertes, postdramatisches Theater? Performancetheater? Avantgarde? Vielleicht einfach: Theater. Unser zentrierter Blick aufs Stadt- und Dramentheater spielt ohnehin anderswo keine Fortsetzung. Fünfunddreißig Produktionen hat Festivaldirektorin Frie Leysen eingeladen, ihr Blick geht diesmal besonders in Richtung Osten, von Europa bis in den Orient, bis nach Ägypten, Libanon, Iran und Indien. Dabei geht es - wie nicht nur die sehr politischen Arbeiten der Libanesen Rabih Mroué und Walid Raad oder der Künstlergruppe "News from Theran" zeigen - keineswegs um Folklore. Sondern um die Erweiterung unseres eigenen, wie Leysen sagt, "politisch und ästhetisch chauvinistischen" Horizonts.



Weitere Termine

"Sabenation" auch in Braunschweig, 10., 11. Juni; "New Game" in Hannover am 15., 16. Juni; "Bloody Mess": Wien 26.-29. Mai, Hannover, 17./18. Juni, Volksbühne Berlin, 26. Juni.

Den Auftakt allerdings machte das Festival vor allem mit einigen Premieren europäischer Künstler und Gruppen, die längst zu einer Art Kanon gehören. Die derzeit in Deutschland wohl bekannteste mag Rimini Protokoll sein, das Regie-Trio bestehend aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel. Beharrlich entwickeln sie ihre Arbeit mit ihren so genannten Experten weiter, also mit Laien, die im wesentlichen sich selbst spielen (aber wohlgemerkt: spielen). In Brüssel haben sie sich dem Zusammenbruch der belgischen Fluggesellschaft Sabena gewidmet, genauer einigen der Menschen, die zu den zwölftausend Entlassenen gehörten. "Geht nach Hause und verfolgt die Nachrichten", das war die einzige Auskunft, die sie bekamen, als eines Tages im November 2001 ihre Identitätskarten die Türen zum Arbeitsplatz nicht mehr öffneten.

Seither tigert Kris Depooter, ein freundlich und korrekt aber ziemlich eingefallen wirkender Mann, in seinem Haus auf und ab, mit der Firma hat er seinen Lebensinhalt verloren. Und Myriam Reitanos lächelt weiter, immer freundlich weiter, wie sie es als Stewardess gelernt hat. Jean Pettiaux, der immer Pilot werden wollte, es aber wegen einer Behinderung nur zum Flugingenieur brachte, hat seine Leidenschaft für Flugzeuge nun ganz zum Hobby gemacht, und Medi Al Aiarmehe jobbt im Marsupilami-Kostüm als Fotomodell unterm Atomium.

Sabenation ist unspektakulärer als andere Arbeiten von Rimini Protokoll, doch gerade deswegen findet der Abend so schön zu sich selbst. Man muss sich auf die kleinen Hinweise einlassen, die durch Text, Bewegung, Stimmungen entstehen. Denn das Leben, das hier gezeigt wird, gehört den Darstellern und gleichwohl ist die reduzierte und zugleich spielerische dramaturgische Form, die ihnen Halt gibt, das eigentliche Vehikel der Arbeit: Wenn Depooter den auf dem Boden markierten Grundriss seines Hauses verlässt und in eine andere Bühnenecke wandert, während er verschämt berichtet, dass seine Frau ihn an die Luft geschickt hat, weil sie ihn zuhause nicht mehr erträgt, dann glaubt man ihn wie einen alten Bekannten zu kennen. Wenn Danny Rits, der Sicherheitsbeauftragte, die kleine Tochter von Myriam Reitanos beherzt ein Stück zur Seite hebt, bevor keinen Augenblick später ein unglaublicher Pingpongballregen auf die Bühne prasselt, dann versteht man sein Verantwortungsfühl besser als durch alle Worte. Und Mutter Reitanos lächelt stumm.

Auch die neue Produktion von "Forced Entertainment" - die anlässlich des Kunstenfestivals ihr zwanzigjähriges Jubiläum mit einer Ausstellung begehen - ist unspektakulär. Und ebenfalls ganz bei sich. Denn Bloody Mess ist ein zwar diffuses, aber sehr genau kalkuliertes Theaterchaos mit vereinzelten Figuren auf einer großen, bis an die Mauern aufgerissenen Bühne. Immer am Rande der Dramaturgie, deren roten Faden, wie dünn er an diesem Abend auch sein mag, Regisseur und Autor Tim Etchells gleichwohl immer in der Hand behält. Nichts will sich mehr zusammenfügen, es ist ein Endspiel des Theaters und des Lebens, jeder narrative Halt bröckelt weg, sobald man nach ihm greift, die Charaktere finden kein Stück mehr, während ein großer Affe traurig mit Taschentüchern wirft: Theater an seine Grenzen manövriert und gleichzeitig voller großartiger Szenen, pointensicherem Humor und vielen Einsichten.

Die gelingen der jungen ungarischen Künstlerin Edit Kaldor, die im vergangenen Jahr zm Shooting Star avancierte - mit einer Performance, die sich ausschließlich auf dem projizierten Windows-Desktop eines Computers abspielte, diesmal leider nicht: In einer komplexen und ästhetisch aufwendigen Arbeit versucht sie ein Computerspiel als Liveperformance auf die Bühne zu bringen. Doch der Zuschauer bekommt zu wenig in die Hand, um Teil zu haben, an der komplexen und ziemlich opaken Dramaturgie - oberflächenvisuell bewegen sich die beiden Spielfiguren durch geometrische Raster und erfüllen ihre Aufgaben, ohne dass sich glaubhaft erschließt, dass der Abend tatsächlich live und jedes mal neu entsteht. Eine künstlerische Sackgasse, vorerst zumindest.

Wo das Spektakel auf den Bühnen oft ausbleibt, findet es zu später Stunde im Festivalzentrum statt. Tag für Tag fahren Gregg Whelan und Gary Winters, das Gespann des fulminanten Performanceduos "Lone Twin" mit ihren Klapprädern durch Brüssel, immer die gleiche Stecke, und sammeln Geschichten und Erlebnisse, die sie dann als eine Art standup präsentieren. Jede Nacht fünf Minuten mehr, bis es am Ende zwei Stunden sein werden. Es ist diese Mischung aus Straßentheater, Speaker's Corner, durchdachtem Konzept und großer, geradezu besessener Beharrlichkeit, die die beiden auch auf dem Kontinent populär werden lässt. Jeder Abend ist neu, jeder Abend in gewisser Hinsicht eine Premiere - das passt zu diesem Festival, das auch sonst gerne riskant spielt: fast die Hälft der 35 Produktionen sind Uraufführungen. So hat Frie Leysen das Kunstenfestival - das sie seit neun Jahren charmant und konsequent durch die Wellen der ziemlich unübersichtlichen Brüsseler Kulturpolitik steuert - zu einem immens wichtigen Knoten im internationalen Produktionsnetzwerk gemacht. Und sie spürt sehr genau, wenn wieder Partner (wie gerade in Deutschland) wegfallen oder finanziell schwächer werden.

Doch so sehr das Geld auch für das Kunstenfestival immer wieder ein Problem ist, so sehr die Politik an der Kultur sparen möchte: In der Stadt selbst ist das Festival fest verankert. Lagen die Auslastungszahlen vor ein paar Jahren bei 75 Prozent - was für ein Festival mit oft schwerer Kost gut ist - schossen sie im letzten Jahr auf 97 Prozent. "Es braucht", wie Leysen betont, "eben Zeit, bis sich so etwas entwickelt. Nicht nur zwei, drei Jahre". Das nur, falls ein Kulturpolitiker bis hierhin gelesen haben sollte.







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Dokument erstellt am 10.05.2004 um 17:16:12 Uhr

Erscheinungsdatum 11.05.2004


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