Sterben gehört zum Handwerk

Ich möchte lieber nicht: Wie sich die deutschsprachigen Bühnen beim Berliner Theatertreffen präsentierten. Eine Bilanz

Von Rüdiger Schaper

16.05.2005 / Der Tagesspiegel

Steiler Beginn, dann eine lange, abfallende Kurve, schlussendlich ein Aufbäumen, ein Ausreißer nach oben: Das Berliner Theatertreffen 2004 gleicht in seinem Verlauf dem Aktienmarkt. So war es auch früher schon, als Sprache und Gestus der New Economy noch nicht Eingang in die Stadt- und Staatstheater gefunden hatten: Regisseure vor allem können auf diesem Festival ihren Marktwert steigern, und die Auswahl der zehn „bemerkenswerten“ Aufführungen ergibt so etwas wie den Dax der deutschsprachigen Bühnen.

Die Konjunkturaussichten: In der ersten Theatertreffenwoche schien das Glas halb voll, in der zweiten halb leer. Aber die Frage, ob der Aufschwung endlich da ist, stellt man besser nicht. Die Frage ist auch falsch. Denn so, wie sich das Theater jetzt präsentiert, werden wir es noch lange haben: ganz anders als noch vor vier, fünf Jahren. Es gibt Formenvielfalt wie nie, aber auch Gefühlsarmut, Zynismus, Hitparadenzwang. Die phänotypische Inszenierung heute mischt aggressives Auftreten mit defensiver Grundhaltung. Man kann es auch einfach Pose nennen.

Die Theatertreffen-Jury, deren Auswahl durchaus repräsentativ war, spricht von der großen „Unübersichtlichkeit“ und von einer „Zeit der Zweifel“. Das sind typisch kulturbetriebliche Labels, die suggerieren, dass doch einmal wieder fettere Jahre kommen. Das Wiener Burgtheater übrigens kündigt für die kommende Spielzeit eine Reihe „Wohlstand in Gefahr“ an. Die Burg ist die reichste Bühne im deutschsprachigen Raum.

Wir leben, endgültig, in einem anderen Theaterland. Einen Peter Zadek, der am Mittwoch seinen 78. Geburtstag feiert, wird man vielleicht nie wieder beim Theatertreffen sehen. Selbst Frank Castorf, unser letzter Held, zählt hier offenbar schon zum älteren Eisen. Er war nicht eingeladen – dafür überraschend seine Volksbühne mit Gotscheffs Koltès-Inszenierung „Kampf des Negers und der Hunde“.

Wem fällt überhaupt noch auf, dass Dreiviertel der zehn ausgewählten Inszenierungen mit Video arbeiten? Die Video-Debatte ist vorüber, es gibt nur noch gutes oder schlechtes Video, fast so wie gute oder schlechte
Schauspieler. Ebenso durch ist die Debatte um die Generationen und das „Konservative“. Ist eine lockere, intelligente Tschechow-Produktion wie der „Onkel Wanja“ vom Münchner Staatsschauspiel nun konventionell oder nicht? Kann Boulevard auch Avantgarde sein? Barbara Freys Regiearbeit trug viel zur guten Stimmung in der ersten Hälfte des Theatertreffens bei. Der andere Russe, Gorkis „Sommergäste“ aus Düsseldorf, erinnerte an ein Jugendferienlager. Jürgen Gosch hetzt seine Schauspieler über die Bühne, als wollte er sie müde machen für die Nacht.

Und das ist wirklich eine gute Nachricht: Das Haus der Berliner Festspiele belebt sich. Beach Partys kann man da zwar immer noch nicht feiern, auch wenn in der Kassenhalle knöchelhoch Sand ausgeschüttet war. Doch der viel geschmähte Spielort, früher oft Schauplatz schlimmer Theatertreffen-Havarien, funktioniert plötzlich. So gut, dass manches hier sogar besser über die Bühne ging als am Heimatort.

Bleiben wir bei der Börse. Eine literarische Figur aus der New Yorker Wall Street – nicht etwa im Zusammenhang mit dem 11. September 2001, sondern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts! – wird zum Sinnbild des zeitgenössischen Theaters. Es ist Herman Melvilles Kanzleischreiber Bartleby, der Verweigerer, der Alltagsphilosoph, der Nein sagt. „Ich würde vorziehen, es nicht zu tun“ (I would prefer not to...), lauten Bartlebys unerschütterliche Worte, wenn ihm eine Arbeit angetragen wird, die ihm nicht passt, warum auch immer. Bartleby war die Inspiration für Christoph Marthalers „Lieber nicht“ an der Volksbühne, das Berliner Hebbel am Ufer hat kürzlich in Bartlebys Namen ein langes Wochenende veranstaltet.

„Ich würde vorziehen, es nicht zu tun“. Das ist, mit unterschiedlicher Motivation, die Haltung vieler Theatertreffen-Regisseure. Johan Simons’ „Anatomie Titus“ von den Münchner Kammerspielen: eine überraschend glänzende Eröffnung. Aber diese Wiederannäherung an Heiner Müllers Text über das Vordringen der Barbaren in unsere Welt bedeutet zugleich: ein Nicht-Spielen, eine Demonstration, dass Gewalt, Krieg, Intrigen auf der Bühne nicht mehr darstellbar, nur noch als Diskurs möglich seien.

„Es nicht zu tun“ hat im Grunde auch Nicolas Stemann vorgezogen, der Uraufführungs-Regisseur des „Werks“ der Elfriede Jelinek. Die Produktion vom Burgtheater macht sich in der Hauptsache lustig über Jelineks
österreichische Alpen- und Nazi-Obsessionen. Ein bunter, unterhaltsamer Abend, dem ein so saukomisches Thema wie Zwangsarbeiter und das Bergbahnunglück von Kaprun zugrunde liegt. Bei der so genannten Uraufführung von „Bambiland“ letzten Winter in Wien ging Christoph Schlingensief noch konsequenter zu Werk: Der Jelinek-Text spielte überhaupt keine Rolle.

Wenn Christoph Marthaler sich „Dantons Tod“ vornimmt, hockt Bartleby mit auf der Bühne, in vielerlei Gestalt. Büchners Drama häutet sich bei Marthaler (es war seine zehnte Theatertreffen-Teilnahme) zu einer Reflexion über Tod und Fatalismus. Der Abschied der Marthaler-Familie vom Traum der Zürcher Intendanz, der zum Alptraum wurde, überschattet das Schicksal der Revolutionäre um Danton. Die Aufführung ist da stark, wo man begreift, was es heißen mag, in der Todeszelle zu warten. Aber sie zeigt auch, dass die wenigsten Theaterleute noch willens oder in der Lage sind, eine andere Geschichte als ihre eigene zu erzählen. Das Selbstreferenzielle des Theaters gewinnt mehr und mehr Dominanz. Gefühl, Romantik, Illusion: Das geht nur dann noch, wenn es sogleich hinterfragt wird. Geschichten werden im Kino erzählt, Bilder in den elektronischen Medien produziert. Das Theater zieht sich auf die Metaebene zurück.

Und das ist eben Bartleby: immer mit sich selbst beschäftigt, aber auch eifrig, ja häufig von einer wilden Arbeitswut besessen, die ebenso unerklärbar bleibt wie die Verweigerung. Dieser Widerspruch bezeichnet
jüngere Erfolgsregisseure wie Michael Thalheimer (er war diesmal nicht zum Theatertreffen eingeladen) und Armin Petras (er war mit seinem kleinteilig-kryptischen „We are camera/Jasonmaterial“ vom Hamburger Thalia Theater dabei). Sie inszenieren hier und dort und dies und das, nutzen ihren Karriereschwung verständlicherweise voll aus, während der Theaterbetrieb insgesamt eine gewisse Erstarrung ausstrahlt. Das Band läuft zugleich heiß und leer.

Es muss einem auch angst und bange werden, wenn sich ein Künstlerkollektiv, das mit Laien arbeitet, als die Entdeckung des diesjährigen Theatertreffens erweist. „Deadline“ vom Rimini Protokoll – die Truppe hat in Matthias Lilienthals HAU ihr Berliner Zuhause – berichtet vom Sterben, vom Tod, von der Sterbeindustrie. Doch es geht, ausnahmsweise, nicht um den Tod des Theaters, sondern um Menschen. Trauerredner, Begräbnismusiker, Steinmetz, Krankenschwester sind einige der mit dem Tod befassten Berufsgruppen, die Rimini Protokoll auf die Bühne stellt, in sparsamen Arrangement, kunstvoll-kunstlos. Eine Art Dokumentarfilm-Theater, das überrumpelt: in seiner Direktheit und seiner (ausgetüftelten) Naivität. Rimini Protokoll zieht es vor, nicht zu spielen, und ersetzt die Illusion des Theaters radikal durch die Illusion von Realität.

 

Internationale Koproduktionen gehören seit einigen Jahren schon zum Standard des Berliner Theatertreffens. Die Arbeitsbedingungen haben sich verändert, auch die Theatermärkte rücken zusammen. Hinter „Deadline“ steht nicht nur das HAU, sondern das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, das Schauspiel Hannover und das Burgtheater. Selbst eine kleine, kaum theatertreffenreife Sache wie „Wilde“ von Händl Klaus in der Regie von Sebastian Nübling entstand in Zusammenarbeit von Hannover und Graz. Alain Platels „Wolf“ haben die Ruhr-Triennale, die Pariser Oper und Platels Truppe aus Gent produziert.

Mit „Wolf“ geht das Theatertreffen zu Ende – grandios, auch wenn die Aufführung schon letzten Mai in Berlin zu sehen war. Hunde, Sängerinnen, Street Performer aus vier Kontinenten und ein neunzehnköpfiges Orchester auf der Bühne: Sie spielen Mozart in den Vorstädten Babylons, das überall liegt. Ein unmöglicher globaler Mix: Da schauen alle Bartlebys von ihrer Arbeit auf.


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