So nah als wär' man da

Black Tie im HAU DREI

Von Patrick Wildermann

13.12.2008 / Der Tagesspiegel

Craig Venter hat blaue Augen, eine Glatze, und er segelt gerne. Sein komplett sequenziertes Genom ist im Internet einsehbar, und es unterscheidet sich um 0,1 Prozent von dem einer Frau, die Miriam Yung Ming Stein heißt. Gemeinsamkeiten zwischen dem US-Gen-Pionier und dem südkoreanischen Adoptivkind fallen nicht ins Auge, außer vielleicht der Tatsache, dass Miriams Genom nun ebenfalls öffentlich einsehbar ist, weil es als Folie den Bühnenboden des HAU 1 bedeckt, wo die Journalistin aus ihrem Leben erzählt. Sie wird im Verlaufe des Abends 276 Mal ‚Ich’ sagen – und doch nie wissen, wer damit eigentlich gemeint ist.

Die Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel der Gruppe Rimini Protokoll begeben sich in „Black Tie“ mit ihrer Protagonistin auf eine Identitätssuche, die beim Fund des Babys im südkoreanischen Daegu beginnt und in die entwurzelte Kindheit bei Osnabrücker Adoptiveltern führt (wieder am 13. sowie vom 15. bis 17. Dezember). Die Rimini-Dokumentaristen haben sich bei ihren Navigationen durch die prekären Bühnenrealitäten selten verirrt, aber diese Inszenierung zählt zu ihren stärksten überhaupt. Zumal die herkunftslose Frau Stein eine überaus talentierte Performerin ihrer selbst ist. Ihre Geschichte wirft, wie so oft bei Rimini Protokoll, eine Reihe inspirierender Kollateralfragen auf: Nach dem tatsächlichen Altruismus von Adoptionsjunkies und anderen Erste-Welt-Helfern zum Beispiel.

Und vor allem nach den Grenzen des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Miriam hat ihr Erbgut analysieren lassen. Seitdem weiß sie, dass ihre Mutter von einer Gruppe von Frauen abstammt, die vor 60 000 Jahren von Afrika nach Arabien gezogen sind, das erkennt man an einer Mutation der Mitochondrien. Außerdem weiß sie, dass sie ein zu 74 Prozent erhöhtes Risiko hat, an Alzheimer zu erkranken, also insgesamt ein Risiko von 20,9 Prozent. Mit diesem Ausblick ins Vergessen endet der Abend, der die Frage stellt, woraus wir gemacht sind. Näher kann Theater ja kaum bei sich selbst sein.


Patrick Wildermann


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