»Sehr verehrtes Schwein!«

Schauspiel Stuttgart: »Peymannbeschimpfung« von Rimini Protokoll

Von Hans-Dieter Schütt

25.09.2007 / Neues Deutschland

Der Dilettant ist der Held des Theaters von Rimini Protokoll, und der Dilettant ist ein starker Mensch. Er missachtet jene Regel, die seiner mangelnden Könnerschaft eigentlich den Auftritt verbietet. Er bricht das Gesetz, das ihn zum schüchternen, respektvollen Schweigen verurteilt. Die schauspielerische Frechheit, sich von Publikum anschauen zu lassen, nimmt er aus Kräften, die ihm die eigene Biografie liefert. Der Dilettant entfaltet diese Kräfte aber nicht wie eine Zugabe oder ein Geschenk, nein, es sind da Energien aus größter Notwendigkeit am Werke: Ich muss und will sein, wie ich bin, das ist Kunst genug; wenn etwa Malen oder Spielen eine Kunst ist, dann ist es Einmaligkeit umso mehr. Meine Einmaligkeit. Das ist Anmaßung, gesetzt als schöne Behauptung.

Wenn Künstler Bühnen betreten, wird Kraft leicht zum Protz; beim Laien erlebt man Kraft als Problem: Da weiß einer sich nicht zu fassen und sucht freilich nach einem Ausweg. Der Ausweg heißt, wie beim Künstler: Ausdruck. So wird Kraft zur Schwäche, die allerdings besonders hoch zählt in dieser Zeit: Ich gebe mich preis.

Rimini Protokoll ist das Duo (Helgard Haug und Daniel Wetzel), das Menschen mit deren Biografien auf die Bühne holt und so dem Theater das Theater austreibt – aber natürlich mit den Mitteln des Theaters. Aus nahezu soziologischer Forschung, aus dem Suchen in realen Erfahrungswelten wird eine Art fantasiedurchtriebenes Dokumentarspiel, so, wie es in allen Zeiten eine negierende Reaktion der Kunst auf sich selber gab, eine Abkehr von üppiger Künstlichkeit, vom Überdruss des Ästhetischen, von den lügnerischen Bedrängungen durch den schönen Schein. Man mag an das politisch nach Welt greifende Dokumentartheater von Armand Gatti oder Peter Weiss denken oder an eine intime Authentizität, wie etwa Thomas Langhoffs TV-»Befragung Anna O.«, an Lothar Warnekes Spielfilmdokumentarismus, überhaupt an alle Formen der Protokolle-Literatur – bis hin zum Theater des Christoph Schlingensief, der Menschen mit geistiger Behinderung, seltsame, merkwürdige Leute also, zu eigenmächtigen Helden einer aufstörenden Souveränität erhob, und das in gediegen-geheiligten Kunsträumen. Rimini Protokoll da inmitten. Längst eine Erfolgsgeschichte.

Nun haben Helgard Haug und Daniel Wetzel »Peymannbeschimpfung. Ein Training« inszeniert – eine der Uraufführungen beim Projekt »Endstation Stammheim« des Schauspiels Stuttgart. Erinnerung ans Trauma RAF – im Nordwesten der Stadt befindet sich jenes inzwischen weltberühmte Gefängnis, in dem Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe ihre Strafe verbüßten, weiter RAF-Geschichte schrieben, Selbstmord begingen.

1974 war Claus Peymann als Schauspieldirektor nach Stuttgart gekommen, 1977 hatte er einen Brief von Ensslins Mutter ans Brett für Betriebsinterna gehängt. Eine Bitte um Spendengeld für eine Zahnbehandlung der Stammheim-Häftlinge. Peymann selbst spendete 100 DM. Dies war der Ausgangspunkt für eine hemmungslose Entladung Stuttgarter Bürgerzorns.

Vier Leitz-Ordner stehen auf der Bühne. Die Post von damals. Peymann liest auf einer Videowand Auszüge vor – der Mann, den die Stuttgarter Politik früh freigegeben hatte für Häme und Hass. Ein Programmbuch für Wedekinds »Frühlingserwachen« war genauso verboten worden wie die Uraufführung von Ulrike Meinhofs »Bambule« – Baden-Württembergs Ministerpräsident Filbinger und sein CDU-Fraktionschef Späth attackierten Peymanns aufklärerisch linkes Theater, wo sie nur konnten (Peymann jüngst in einem Interview: »Späth war eine Art Jago, der unbedingt Ministerpräsident werden wollte.«).

Peymann liest auf den Videobildern mit einer fast diabolischen Freude. Ein Übertreibungskünstler. Der Abstand der Jahre tut sein ironisches Werk, und Peymann, der ja gerne selber schimpft, weiß: Wenn er beschimpft wird, wie auch immer, dann übt sich der Weltgeist ein wenig in balancierender Gerechtigkeit. Nur manchmal entfährt ihm, leicht, die nachwirkende Erschütterung: »Mein lieber Mann ...« Was da geschrieben steht, durcheilt alle Facetten des Rufmordes, des Aufrufs zum Mord, des irrational oder klar faschistoid Bösen. Die Mehrheit der Empörten gegen die Minderheit von Sympathisanten. Aber: Der Volksmund ist ein Maul. »Man sollte es nicht glauben, dass Schweine Ihres Kalibers sich an öffentlicher Stelle behaupten können ... Warum gehen Sie mit Ihrem Revolutionsrotz nicht nach Russland? ... Schmarotzer und Bastard unserer Gesellschaft ... Dir gehört die Mistgabel auf den Kopf gearscht, bis die Socken platzen ...« Einer aber schickt im Brief weitere hundert Mark. Peymann präsentiert das alles mit einer aufreizenden Pose der Fremdheit.

Post aus einer anderen Zeit, einem anderen Land. Weit weg. Dass man aber just dies nicht so ganz glauben will, macht die Provokation aus. Briefe als ein Exzess der freien Meinung, der Menschennaturen freilegt, die heute nicht anders reagieren würden. Verwünschung tobt mit dem Beistand von etwas, das sich Moral und Bürgersinn nennen darf. »Sehr geehrtes Schwein ...«, schreibt jemand. Peymann kann sich erinnern, denn so wurde er nie wieder angeredet.

Rechts auf der Bühne steht, im Arbeitskittel, der Rüstmeister des Theaters, Rolf Otto. Jedes Mal, wenn Peymann eine Adresse von Briefschreibern vorliest, erscheint auf der Leinwand, auf einem vergrößerten Computerschirm, das Orts-Luftbild, und die jeweilige Straße wird herangezoomt. Erinnerung konkret. Das hat eine bedrängende Unmittelbarkeit. Die Dämonie der Nachbarschaft. Herr Otto erzählt auch vom Umgang mit Theaterwaffen – beim Überfall der RAF auf die deutsche Botschaft in Stockholm war eine Pistole aufgetaucht, die Jahre zuvor aus dem Fundus des Theaters verschwunden war. Auch dies wurde damals mit Peymann in Verbindung gebracht, obwohl er noch gar nicht in Stuttgart war, als diese Waffe gestohlen wurde.

Die Lesung der Briefzitate koppelt Rimini Protokoll mit Bühnen-Auftritten des Turnvereins Stammheim, vom Jazzdance bis zum Tischtennis, vom Yoga bis zum Hip-Hop. Das ist die Idee des Abends – und sein Problem. Verzichtet wird auf die Erhellung damaliger Geisteszustände und Lebensumstände, wie das also zusammenging in Stuttgart, die Aufreizung und das Alltägliche, die Hysterie und das Bewahren der Fassung. In kurzen Statements erzählen Mitglieder des Turnvereins von ihrem Leben im Stadtteil Stammheim. Das ist ein Adeln des Profanen. Aus klar erkennbarer Absicht: der Explosivität jener Zeit das kleine fortlaufende Leben gegenüberstellen; der hochtrabenden Revolutionsgier einiger, die dafür zu Mördern wurden, die Kultur des deutschen Alltags entgegensetzen, die nichts wusste und nichts wissen wollte von Klassenkampf und Weltbefreiung. Extremer konnten Daseinsformen nicht voneinander entfernt sein. Und beide Extreme nannten sich: Stammheim. Nur wirkt das Ganze auf Dauer zu ein-tönig. Die Idee arbeitet redlich, bis sie müde wird.

Die eigene Notwendigkeit zu kultivieren, darauf läuft alles Ausdrucksgewerbe hinaus. Also: nie mit sich selber Schluss machen, sondern vielmehr alles, was einem begegnet, als Reiz empfinden; den Ausdruck so oft probieren, bis das, was mehr zu einem anderen als zu einem selbst gehört, weggelassen werden kann. Herausbringen, was ich muss. Eigensinn offenbaren – ihn somit entwickeln, festigen. Das ist es, was bislang jede Theateraufführung von Rimini Protokoll ausstrahlte. Biografische Momente wurden montiert, das Fiktive bestand in der Verdichtung und Verknüpfung des Realen; aber aller Kunstgehalt behielt den Hauch des holpernd Ungelenken. Just daraus erwuchs die Prüfung: Überstehen die biografischen Realien jene Distanz, die sich durch den Laiencharakter der Darstellung aufdrängt?

Die »Peymannbeschimpfung« hat diese Faszination früherer Abende von Rimini Protokoll nicht. Es fehlt der besondere Zugriff auf jene einzelne, unverwechselbare Biografie, die so alltäglich wie aufregend, die so banal wie just darin so abenteuerlich ist. Der Monotonie von Sport- und Tanzgruppen-Auftritten kann solche Spannung aber auch gar nicht abverlangt werden. Besagte Flächigkeit des beinah immer Gleichen macht den Abend klein, der regionale Selbsterkennungseffekt freilich erhöht ihn wieder. Wahrscheinlich »nur« ein Stuttgarter Ereignis, diese Rimini-Protokoll-Inszenierung. Aber sollte sie denn mehr sein?


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Peymannbeschimpfung - ein Training