Rimini Protokoll macht Zuschauer zu Akteuren

Was passiert eigentlich, wenn ich auf der Bühne selbst bestimmen kann, was mit einer Figur geschieht? Das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll hat es spielerisch ausprobiert.

Von Vera M. Teichmann

19.05.2010 / www.zeit.de

ZEIT ONLINE: Ihre aktuelle Inszenierung Best Before stellt ein Video-Spiel im Theaterraum nach. Die Zuschauer spielen ein Spiel, in dem sie über persönliche, gesellschaftliche und politische Fragen in ihrer neuen Welt Bestland entscheiden. Was hat Sie an diesem Projekt gereizt?

Helgard Haug: Wir waren fasziniert von Menschen, die intensiv Computerspiele spielen, die ganz in diese virtuellen Welten abtauchen, und haben uns gefragt: Was bist du für ein Mensch, wenn du spielst? Und es war der Wunsch von uns, eine neue Form des interaktiven Theaters finden.

ZEIT ONLINE: Die Zuschauer spielen in diesem Stück ein besondere Rolle: Die Zuschauer gestalten das Stück mit. Die Interaktion des Publikums ist zwar nicht neu, aber ist sie neu für Ihre Form des Theaters?

Haug: Es gibt zewi Stränge, an denen wir arbeiten. Zum einen an Bühnen-produktionen, bei denen es die klassische Trennung von Publikum und dem Bühnengeschehen gibt. Zum anderen versuchen wir immer wieder mit dem Publikum rauszugehen. Call Cutta war solch ein Projekt. Die Leute sind per Telefon von Call-Center-Mitarbeiter aus Kalkutta durch Berlin navigiert worden oder auch Haupt-versammlung, eine Einladung zur Daimler-Hauptversammlung an 200 Theaterbesucher. Best Before verbindet diese beiden Stränge, belässt den Theater-zuschauer in den heimischen Räumen und verbindet ihn aber mit einer Technik, die ihn zum Hauptdarsteller eines Stücks macht, ohne dass er sich selbst dazu auf die Bühne stellen muss.

ZEIT ONLINE: Wie sieht diese Interaktion des Publikums in Best Before genau aus?

Haug: Jeder Zuschauer, der reinkommt, hat an seinem Platz einen Game-Controller, der zum Einsatz kommt, sobald das Spiel beginnt. Jeder Zuschauer wird durch eine kleine, zweifarbige Blase dargestellt. Die kann mit dem Controller auf unserer virtuellen Bühne, eine großen Projektionsfläche, gesteuert werden. Im Spieljargon wird sie als "Actor" bezeichnet. Jeder Zuschauer kann einen Actor auf der Bühne manipulieren ...

ZEIT ONLINE: … man könnte auch Avatar sagen. Denn die Idee ist ja ähnlich wie bei Sim City oder Secondlife: der Avatar als der virtuelle Repräsentant in einer simulierten Gesellschaft, die stark an die realistische Lebenswelt der Zuschauer angelehnt ist.

Haug: Genau. Mit diesem Actor, Avatar oder Repräsentant lernt man als Zuschauer umzugehen und dabei den Controller einzusetzen. Dann wird man geboren und – das ist das Prinzip des Spieles – fängt an, individuelle Entscheidungen zu treffen: Möchte ich ein Mann sein oder eine Frau? Möchte ich, dass alle das gleiche Startgeld haben? ? Individuelle Fragen also – aber auch solche, die das Spiel und die sich formende Gesellschaft betreffen und bei denen mehrheitlich abgestimmt wird. Die Fragen sind entlang des fortschreitenden Alters angesetzt – mit zehn Jahren entscheide ich eher darüber, ob mein Actor eine Leseratte sein soll oder ein Computerspieler, mit 23 wähle ich einen Präsidenten und kann ihn anschließend in einer Revolution stürzen, exekutieren oder ins Exil schicken...

ZEIT ONLINE: Jede Entscheidung hat also Konsequenzen.

Haug: In diesem Fall für die Berufswahl – ohne moralisch zu sein. Am Anfang steht der Spaß des Spiels. Man trifft aus Spiellust heraus Entscheidungen, die dann später bestimmte Wege versperren oder öffnen.

ZEIT ONLINE: Aber das ist sehr determiniert. Da wird durch Sie als Initiatoren und Inszenatoren vieles begrenzt und bewertet.

Haug: Wobei es aber kein Gut und Böse gibt. Der eine kann studieren, der andere kann schnell Geld verdienen. Je reicher ein Schauspieler ist, um so größer wird er in der Darstellung. Nach und nach bilden sich die meisten Erlebnisse oder Entscheidungen ab. Ein Aufenthalt im Gefängnis oder Krankenhaus ist durch Hörner und Narben ablesbar, es werden Kinder gezeugt, Drogen genommen, Häuser oder Autos gekauft...Es gibt aber auch Zufallsprinzipien wie beispielsweise eine Art Würfel und ein Glücksrad, mit denen einzelne Leute besonders privilegiert oder diskriminiert werden. Auch können Katastrophen wie eine Hungersnot eintreten.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielen Politik, Ethik und Moral in Best Before?

Haug: Das Spiel beinhaltet ethische und politische und auch moralische Fragen, und die Antworten und Mehrheitsentscheidungen werden durch die Spieler lautstark kommentiert oder vielleicht auch manipuliert. Es ist ein Spiel, das immer wieder etwas über die utopischen Möglichkeiten aussagt, die sich eine Gesellschaft herausnimmt. Auch das Sterben ist ab dem Alter von 72 Jahren in unserem Spiel ein großes Thema, denn schließlich stehen die zwei spröden Worte "Game over" am Ende des Spiels, aber eben auch am Ende der realen Existenz.

ZEIT ONLINE: Warum soll man diesen Abend im Theater mit Computerspielen verbringen? Ist das nicht banal? Computerspiele spielen kann ich auch zu Hause.

Haug: Der Unterschied ist, dass man im Theater mit 199 anderen Menschen zusammen spielt. Das verändert die Art, Computer zu spielen. Man tauscht sich untereinander aus. Es stellt sich auch die Frage: Wie können die 200 Leute für diese Zeitspanne eine Gruppe bilden?

ZEIT ONLINE: Haben Sie Angst, dass sich Ihre Theaterform im Begriff ist zu überholen?

Haug: Nein (lacht). Obwohl: wir sind 40, da muss ja mal was Neues kommen. Gerne.


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