Prometheus in der Stadt

Kommentar zu "Prometheus in Athen"

Von Maria Katsounaki

20.07.2010 / H Kathemerini

„An den Felsen wurde ich geschmiedet in der Nacht, als man mich überfallen hat. Man hat mich mit Vitriol bestraft. Es war Mitternacht, keine Menschenseele war auf der Straße unterwegs. Vielleicht, weil es am Tag vor Weihnachten war. Mein jetziger Zustand ist so, als wäre ich dort festgeschmiedet. Jede Stunde werde ich ärztlich versorgt und dreimal täglich muss ich mich Therapien unterziehen.“ Die Stimme von Konstantina Kouneva, mit der ihr eigenen durch die Sprechkanüle verursachten Heiserkeit und Kurzatmigkeit, ist Teil der Aufführung „Prometheus in Athen“. Ihre physische Anwesenheit wird durch eine Frau mit einer Maske vor dem Gesicht ersetzt, einer Maske, deren eine Hälfte zerstört ist...

Kouneva ist eine der 103 Stadtbewohner, welche von der deutschen Theatergruppe Rimini Protokoll für ihre Interpretation von Aischylos´ Tragödie ausgewählt wurden. Eine unter 100, ein Teil von ihnen und dennoch anders, wirklich und gleichzeitig zu einem Symbol geworden.
„Was soll ich sagen... Ich habe lange nicht geredet, und wenn ich jetzt spreche...“. Sie lacht auf, und das Publikum spendet ihr lang anhaltenden Applaus. Sie wird auch weitere Male zu hören sein, immer auf dieselbe Art und Weise. Sie war dort – nicht, um Protest zu äußern (ihr Fall ist auf dem Weg ins Archiv), und auch nicht, um sich in Andeutungen zu ergehen oder ihre emotionsgeladene Präsenz unter den sensibilisierten Theaterbesuchern auszunützen.

Sie war dort, als Teil eines Ganzen, um zu einem zeitgenössischen „Prometheus-Zyklus“ beizutragen. Ihre Tragödie, über die so viel geschrieben wurde, ist eine der vielen Realitäten dieser Stadt. Eine ungewöhnlich harte und unbarmherzige Realität. Egal, wie sehr in ihrem Fall die Dinge außer Kontrolle gerieten – das politische Kalkül setzte sich über alles hinweg -, sie selbst hat ihr Leben mit bewundernswerter Nüchternheit in der Hand behalten.

Über Aischylos´ archetypisches Werk heißt es bei den Fachleuten, es enthalte auch eine politische Dimension. Nicht nur, weil Prometheus den Revolutionär verkörpert, der sich gegen jede Form von Despotismus auflehnt, sondern weil das Stück – wie auch die antike griechische Tragödie in ihrer Gesamtheit – direkt Stellung bezieht zu den großen Themen: Freiheit und Verantwortung.

Die Athener, die an der Vorstellung teilnahmen, hatten den Text gelesen, hatten den Helden gewählt, mit dem sie sich identifizierten, und versuchten, Unterschiede und Ähnlichkeiten zu „erkennen“.

Der Meinung, dass die Größe der antiken griechischen Tragödie nicht zu alltäglichen Charakteren schrumpfen könne, stellten Rimini Protokoll eine Frage gegenüber: Kann es ohne dramaturgische Virtuosität und Tricks szenisch eine Tragödie geben? Ein Drama vielleicht, aber eine Tragödie? Was könnte der Angestellte eines Wachdienstes, ein Jugendlicher, ein Rechtsanwalt, ein Lkw-Fahrer, ein Arbeitsloser oder ein Rentner mit Prometheus, mit Io oder mit Hermes gemein haben? Kouneva ist kein gewöhnlicher Fall. Wie lässt sie sich in die Gesamtheit der kleinen, zuweilen unbedeutenden Ereignisse einordnen, die vielleicht für ein Einzelnen heikel sein mögen, aber nicht lebenswichtig sind?

Und dennoch – „geschmiedet an einen Felsen“ erschienen viele der Stadtbewohner. Aus Unfähigkeit, zu reagieren, oder war es nicht das genaue Gegenteil? Gerade weil sie reagierten, sich nicht anpassten, ihrem eigenen, einsamen Weg folgten. Die anonyme Masse erwarb im Laufe der Vorstellung einen Namen. Sie stellte sich durch ihre Geschichten vor, durch die Fragen, die sie stellte, durch ihre Zweifel und durch ihre Aufrichtigkeit. Nichts wurde beschönigt, nichts wurde interpretiert. Verstreute Sätze und holprige Erzählungen verlangten es dem Zuschauer ab (auch er Teil des repräsentativen Durchschnitts der 100), sie sinnvoll zusammenzufügen. Er sollte von Anbeginn an darüber nachdenken, was der „Fall Konstantina Kouneva“ für ihn selbst bedeutete, für seine Stadt, für die Gesellschaft, für die Institutionen. Er sollte sich „Prometheus“ annähern wie der Rohfassung eines Versuchs über die menschliche Existenz. Ohne de facto Interpretationen und literaturwissenschaftliche Lesarten. Er sollte aufgestört werden, sich identifizieren, traurig und wütend werden. Er sollte an Schuld denken und an Hybris. Die Synthese solch gegenläufiger Elemente könnte eine rätselhafte Vorankündigung für die Zukunft sein. Eine nicht notwendigerweise pessimistische. Und zudem hieß es doch: „Wir wissen, dass am Ende der Trilogie Prometheus siegen wird“...

Maria Katsounaki, H Kathemerini, 20.07.2010, S.10
Übersetzung: Theo Votsos


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