Mit Haltung sterben hilft weiter

"Deadline" - Die letzte Premiere im Neuen Cinema würdigt den Termin der Löffelabgabe

Von Tom R. Schulz

26.04.2003 / Die Welt

Bisher dachten wir, das Wort Deadline sei vor allem für Medienmenschen lebenswichtig. Das Schauspielhaus erinnert uns in seiner letzten Produktion auf der Experimentierbühne Neues Cinema vor deren Schließung daran, dass der Termin der Löffelabgabe jedem Menschen im Genick sitzt. "Deadline", erdacht und in Szene gesetzt von dem Regietrio Haug/Kaegi/Wetzel, ist eine sorgfältig komponierte Todesfuge für viereinhalb Darsteller, Videoprojektion, Tonbandzuspielung und fünf Dutzend Käfer, die in einem Glaskasten herumkrabbeln und dem Betrachter vor Augen führen, dass der Mensch post mortem wenigstens als Glied in der Nahrungskette noch zu etwas taugt, sofern er sich nicht verbrennen lässt.

Zu Beginn führt uns die Krankenschwester und Leichenaufschneiderin Alida Schmidt Sterbehaltungen vor, die sie bei ihren Schlangen zu Hause beobachtet hat. In den folgenden anderthalb Stunden geht es um nichts anderes als um Haltungen zum Sterben und um das Sterben mit Haltung. Wir lernen Hans-Dieter Ilgner kennen, den langjährigen, vor zwei Jahren pensionierten Bürgermeister von Braubach/Rhein, der in seinem Gemeinwesen ein Flamarium errichten ließ - die ethisch nettere Form eines Krematoriums. Seine Erinnerungen an die Trauerfeier für einen der Honoratioren seiner Stadt bilden den Rahmen für den Theaterabend. Als Organisator der inszenierten Feier tritt der ehemalige Krankenhausfotograf Olav Meyer-Sievers auf, der in seinem früheren Beruf dem Tod manchmal ins sehr weit geöffnete Auge sehen musste. Seit dem vergangenen Jahr hält er Trauerreden. Hilmar Gesse hat es nicht so mit dem Sprechen; der gelernte Steinmetz und Grabsteinschreiber zieht die Schrift vor und hält, wenn er etwas mitzuteilen hat, lieber entsprechende Tafeln über seinen Kopf. In einer Nebenrolle sehen wir eine rumänische Geigerin, die ihren Namen nicht nennt. Sie arbeitet als Trauermusikerin in Ohlsdorf. "Ich weine nie, das ist mein Beruf", sagt sie.

Diese Akteure sind allesamt keine Laienschauspieler. Sie sind die Darsteller ihres eigenen Lebens. "Deadline" funktioniert als ernste, aufrichtige, verantwortungsvoll mit dem Makabren spielende und die Absurditäten des Sterbens nicht beschönigende Reality-Show, bei der nur Menschen zu erleben sind, die hauptberuflich mit dem Tod zu tun haben. Obwohl sie auf der Bühne stehen und augenscheinlich ihre Rollen spielen, bleiben sie weitgehend bei sich. Weil sie an hohe Verbrennungstemperaturen gewöhnt sind, scheint Lampenfieber sie kalt zu lassen.

Zu den authentischen Stimmen der Sterbeprofis treten Statistiken, Zahlen, Fakten. Wussten Sie, dass ein gemeißelter Buchstabe auf dem Grabstein sieben Euro kostet? Dass die Einäscherung bei normalgewichtigen Leuten etwa anderthalb Stunden dauert, bei einem 200 Kilo schweren Bodybuilder indes drei Stunden? Und dass wir alle, alle in der Stunde des Todes nach Mama schreien? Alte, Junge, Elternlose? Nie schreit einer nach der Frau, nach den Kindern, sagt vom Tonband die Krankenschwester Sabine Herfurt, die seit 30 Jahren das Sterben aus nächster Nähe kennt.

Werfen wir einen letzten Blick auf den Anlass für dieses formidable Theatererlebnis, die bevorstehende Schließung des Neuen Cinemas, der unrentablen Spielstätte des Schauspielhauses am Steindamm. Ihr ramponierter Charme wird uns fehlen. Schaler Trost: Hätte das sterbende Theaterchen statt nach Mama nach Vater Staat gerufen, es hätte bestimmt auch nichts genutzt.


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