Ich tice, also bin ich.

Helgard Haug holt mit "Chincilla Arschloch, waswas" das Tourette-Syndrom vor den Vorhang.

Von Peetra Paterno

24.03.2023 / Wiener Zeitung

"Barbaralla-Arsch". "Halt’s Maul." "Du Arschloch." "Miau." So oder so ähnlich kann es sich anhören, wenn Menschen mit Tourette gemeinsam auf der Bühne stehen. Für diesen verbalen Schlagabtausch gibt es kein Skript, alles spielt sich rasend schnell ab, die Beschimpfungen fliegen nur so hin und her, mal hört man sie kaum, dann wiederum hallen sie lautstark von der Bühne. 
Mit Tourette gerät jede Aufführung ein wenig zur Uraufführung; Szenenabläufe und bestimmte wiederkehrende Inhalte lassen sich wohl vorab proben und verabreden, aber was dazwischen passiert, ist dem Krankheitsbild entsprechend dem Zufall überlassen. Tourette ist eine angeborene Erkrankung des Nervensystems, die sich in unkontrollierbaren Tics zeigt - nervöse Zuckungen, eigenartige Laute oder eben seltsame sprachliche Äußerungen.
Die geradezu dadaeske Qualität dieser unheilbaren und nicht behandelbaren Krankheit hievt der außergewöhnliche Theaterabend "Chinchilla Arschloch, waswas" auf die Bühne. Im Wiener Volkstheater gastiert nun die Erfolgsproduktion von Rimini Protokoll in der Regie von Helgard Haug; 2019 uraufgeführt wurde "Chinchilla Arschloch" auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
 
In 28 Szenen stellt die Inszenierung in 90 Minuten drei Männer und ihr Leben mit Tourette vor: Da ist Benjamin Jürgens, er ist Altenpfleger und Musiker - "mit Musik geht’s, die macht mich ruhiger". Auf der Bühne erzählt Jürgens etwa von seinem ersten Theaterbesuch, den er völlig entkräftet und schweißüberströmt in der Pause abbrach: Menschenansammlungen setzen ihn unter enormen Druck, auch zählt er eine Reihe an Zwängen auf - wie das Zählen von Fliesen - und selbsterlegten Ritualen, die er für sein Wohlbefinden abspulen muss. Jürgens sagt: "Ich tice, also bin ich."
Zu einem seiner Tics gehört es, laufend den Raum neu ordnen, im Lauf der Aufführung wird auf seine Anweisungen hin, das Bühnenbild mehrmals neu geordnet - Bühnenbildnerin Mascha Mazur entwarf dafür eine weiße Bühnenlandschaft, die ein wenig an Eisschollen erinnern und leicht verschoben werden können.
 
Der nächste Auftritt gehört Christian Hempel: Er fährt mit einem Fahrrad auf die Bühne und erklärt als erstes seine Bedingungen, um überhaupt an dem Theaterprojekt mitwirken zu können, eine davon lautet: "Ich lerne keinen Text auswendig." Tatsächlich hält Hempel während der gesamten Aufführungsdauer ein Manuskript in den Händen und liest auch immer wieder davon ab.
Auch wenn "Chinchilla Arschloch" den Tourette-Syndromen Freiräume gewährt, gibt es geprobte Abläufe. Etwa das Duell: "Wer tict zuerst?", nachempfunden dem Kinderspiel: "Wer blinzelt zuerst". In der Wiener Aufführung verliert Jürgens 3:0, als Schiedsrichterin fungiert die Musikerin Barbara Morgenstein, sie hält mit ihren Kompositionen - elektronische Musik und Lieder mit Klavierbegleitung - den Abend zusammen.
Zuletzt stürzt Bijan Kaffenberger auf die Bühne, er ist Politiker, wurde für die SPD in den Hessischen Landtag gewählt und tritt im YouTube-Kanal "Tourettikette" auf. Kaffenberger hält nach allen Regeln der Kunst eine gewitzte Rede: "Ich habe mich im Griff, aber Tourette führt ein Eigenleben."
 
Was ist Absicht, was der Krankheit geschuldet? Was ist Tic oder Timing? Entlang dieser Fragen entfaltet die Aufführung ihre Komik, dabei kommt es zu grandiosen Pointen und unerwarteten Wendungen, die auch die Rolle des Zuschauers hinterfragen: Inwiefern ist man hier Voyeur?
Dem Team ist ein besonderer Theaterabend gelungen, der nicht nur wenig bekannte Facetten der Krankheit erkundet, sondern auch weiterführenden Gedanken Raum lässt: Wie ist es um Angst vor Kontrollverlust bestellt? Wieviel Störung verträgt die Ordnung?

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Chinchilla Arschloch, waswas