Ich fühle mich wie an einen Felsen geschmiedet...

Prometheus in Athen

Von Elena Galanopoulou

19.07.2010 / Elefterotypia

Es war ein idealer Schlusspunkt für die Athener Veranstaltungen des Greek Festival. Im Schatten der Akropolis maßen sich die heutigen Athener am vergangenen Donnerstag mit ihrer Vergangenheit und äußerten sich in einer zutiefst demokratischen, auf Teilhabe fußenden Theateraufführung freimütig über die gegenwärtige Lage. Doch auch Emotionen und Fakten spielten eine tragende Rolle, genau so wie die gut durchdachte Dramaturgie. Die eindrucksvolle deutsche Gruppe Rimini Protokoll hat mit ihrem „Prometheus in Athen“ wieder einmal ein kleines Wunder vollbracht.

Mit einer zur Hälfte zerstörten und mit elektronischen Hilfsmitteln versehenen altgriechischen Maske, sodass die aufgezeichnete Stimme von Konstantina Kouneva zu hören war, trat deren Darstellerin auf die Bühne. Kouneva selbst verfolgte die Vorstellung ganz diskret am Rande mit. Von den Rängen des römischen Theaters schien den Zuschauern der Mut der Teilnehmer verwunderlich, öffentlich und auf einer Bühne zuzugeben, dass man schon im Gefängnis war oder dass man schon an Selbstmord gedacht hat. Beeindruckend die statistischen Daten, mit denen gearbeitet wurde und die einen jedes Mal daran erinnerten, dass das Geschehen auf der Bühne absolut wahrheitsgetreu ist. Andererseits musste man sich als Zuschauer mit den Teilnehmern identifizieren und war von ihrem Schicksal berührt. Doch die Aufführung ging noch ein Stück darüber hinaus. Sie war aus dramaturgischer Hinsicht eine selten gelungene Textur – im dem Sinne, dass zum einen Aischylos´ Mythos vom Gefesselten Prometheus erzählt wurde, der sich zum anderen mit den tatsächlichen, persönlichen Geschichten der Teilnehmer verwob. Dennoch wurde man den Verdacht nicht los, dass die Vorstellung vielleicht noch mehr Wirkung entfaltet hätte, wäre sie nicht im Zusammenhang des „Prometheus-Zyklus“ des Athener Kulturfestivals zur Aufführung gelangt.

An die 3.000 Zuschauer erlebten die Vorstellung am Donnerstagabend. Das Bühnenbild war schlicht: eine große halbkreisförmige Bühne, links die Technik und ein kleines Orchester, rechts ein kleines Podium für eine Einzelperson: die Gebärdensprachdolmetscherin; im Hintergrund eine große runde Leinwand, auf der im Verlauf des Abends die Bewegungen der Teilnehmer – wie das Pulsieren einer Eizelle - in einer Panoramaansicht oder auch statistische grafische Darstellungen und Auszüge aus der Tragödie projiziert wurden. Hinter dem Rücken der Zuschauer übernahmen zwei große Leinwände die Rolle von Souffleuren, die den Teilnehmern Bühnenanweisungen gaben. Eine notwendige Hilfestellung, da die Schauspieler des Abends Laien waren. Die meisten von ihnen standen zum ersten – und möglicherweise letzten – Mal auf einer Theaterbühne - und das mit dem Ziel, niemanden anderen darzustellen als sich selbst.

Die Musik kündigte futuristisch und imposant den Einzug der 100 Bewohner Athens an, die aus drei Toren auf die Bühne strömten. „Wir sind Athen“, sagte einer von ihnen ins Mikrofon. „Man hat uns ausgewählt, weil wir, statistisch gesehen, die Bevölkerung der Stadt repräsentieren. Wir spiegeln laut den aktuellen Daten des Statistikamtes die Alterspyramide wider.“ Und so platzierten sich alle so, wie es der Alterspyramide entsprach: die jüngeren (auch Kleinkinder) ganz vorne, die Alten hinten. Und auf der Leinwand war das Panorama der Formation ihrer Körper zu sehen und darüber gelegt die entsprechende statistische grafische Darstellung. Gleichzeitig trat die Musik vor diversen Alltagsgeräuschen der Stadt in den Hintergrund.
„Wir kommen aus unterschiedlichen Ländern und Kontinenten“, erläuterten sie, während sie die entsprechenden Fähnchen in der Hand hielten. „Drei von uns sind nicht offiziell registriert“, so erklärten sie, bevor aus der Tiefe drei Immigranten „emportauchten“, die mit Beifall begrüßt wurden.

Einer nach dem anderen stellte sich den Zuschauern vor. Sie traten nacheinander ans Mikrofon, nannten Namen, Wohnort, Beruf, Alter und auch, mit welchem der Helden von Aischylos´ Tragödie sie sich identifizierten. Den Anfang machte Omar, der sich Ino nahe fühlt, da er auch durch Krieg aus der Heimat gejagt wurde. Dann folgen die Übrigen, unter denen die 92jährige Stella Mavrogianni hervorstach, die aus der Athener Plaka stammt und gerührt erklärte, sie liebe alle, Teilnehmer wie Zuschauer; dann eine Frau, die ihr Leben der Menschenrechtsproblematik gewidmet hat, dann Apostolos Giannopoulos, der am Griechischen Taubstummen-Theater als Schauspieler arbeitet.

 

Die Kouneva

 

Am bewegendsten jedoch war die Teilnahme von Konstantina Kouneva, die von Efi Kiourtidou hinter einer (von Martha Foka entworfenen) altgriechischen Maske dargestellt wurde, aus der Kounevas Stimme ertönte. „Ich bin ein Mensch. Ich bin eine Frau. Ich bin Immigrantin aus Bulgarien. Ich habe ein Kind und bin alleinerziehend. Ich bin 47 Jahre alt und heiße Konstantina Kouneva. Heute Abend kann ich nicht bei Ihnen sein. Eine andere Person vertritt mich. Doch ich stehe im ständigen Telefonkontakt mit ihr, um meine Meinung zu äußern.“
Mit welchem Helden identifiziert sie sich? Mit einem modernen Gefesselten Prometheus: „Ich fühle mich wie an einen Felsen geschmiedet. Stündlich muss ich mich Therapien unterziehen, dreimal täglich in sehr anstrengender Form. Meine Familie lässt mich nicht oft nach draußen gehen. Vor meinem Haus steht ein Wachposten. Meine Sprechkanüle ist mein Schmuck, den ich nach dem Luftröhrenschnitt noch unabsehbar lange tragen werde.“

Das Publikum erstarrt, erschauert und klatscht Beifall. Später erfährt es, dass Konstantina Kouneva selbst anwesend war, diskret und elegant wie stets, versteckt hinter einer dunklen Sonnenbrille, und der Gruppe Rimini Protokoll – im Namen aller - mit zwei Blumengestecken dankte.

Der Hauptteil der Tragödie beginnt mit der Erzählung des Strafvollzugsbeamten Giannis Mylonas. Er ist der erste der vielen Experten, die auftreten werden. So nennen Rimini Protokoll die nicht professionellen Darsteller, die sie für jedes ihrer Projekte je nach dem entsprechenden Thema engagieren. Jeder erzählt seine Geschichte und stellt gleichzeitig Fragen, die den Mythos weiter vorantreiben. Die Teilnehmer antworten, indem sie sich auf die linke oder rechte Bühnenseite begeben, um sich unter „Ich“ oder „Ich nicht“ einzureihen.
„Wer opfert sich für die anderen auf?“, „Wer würde sich verändern, wenn er an der Macht wäre?“. Die meisten wählen die Antwort „Ich nicht“, was vom Publikum mit Gemurmel quittiert wird. „Wer von euch glaubt, ein Nachfahre der antiken Griechen zu sein?“ Etwa 30% antworten positiv.

Platz finden jedoch auch aktuelle Themen wie „Wer verbirgt Einkünfte vor dem Finanzamt?“, „Wer glaubt, dass die Finanzhilfen an Griechenland nur aufgrund ausländischer Interessen gewährt wurden?“, „Wer sieht die europäische Finanzhilfe positiv?“, „Wer meint, dass er selbst an der Wirtschaftskrise mit Schuld sei?“ (Hier antwortet das Publikum gespalten: fifty-fifty.)

Andere Fragen erforderten mehr Offenheit: „Wer ist dafür, dass die Immigranten aus Athen verschwinden?“ Nur zwei Mutige bewegen sich zur „Ich“-Seite. Und prompt ertönt eine Frauenstimme aus dem Publikum: „Scheinheiligkeit!“ Dann richten die Teilnehmer Lampen in den Zuschauerraum. Sie fordern das Publikum zum Mitmachen auf. Und es reagiert durch Handheben, und der Statistiker Giorgos Douros zieht seine Schlüsse...

Die Musik verstärkt sich, als die erschütterndsten Bekenntnisse folgen: „Wir sind politische Flüchtlinge“, „Wir kennen jemanden, der sexuell missbraucht wurde“, „Wir sind Opfer einer Vergewaltigung geworden“, „Wir haben jemanden sterben sehen“, „Wir haben an Selbstmord gedacht“... Im Hintergrund wird ein pyramidenartiges Podium errichtet. Die Teilnehmer betreten es mit ihren Antworten: „Wir glauben, dass das Gesetz für alle gleich angewendet wird“, „Wir sind schon einmal festgenommen worden“, „Wir sind schon einmal verurteilt worden“, „Wir sind im Gefängnis gewesen“, „Wir haben ein Gesetz übertreten“ – Hier sind es alle. „Wir unterstützen Prometheus in seiner Haltung“ – Hier sind es wieder alle. „Wir wissen, wie die Tragödie endet“ – Wiederum alle. „Prometheus wird am Ende der Tragödie siegen.“

Ein kleiner Junge singt „Morgenlied in Moll“, und die Teilnehmer drehen sich um die eigene Achse. Am Schluss bilden sie eine Anhöhe, indem einer die Hand auf den Rücken des anderen legt. Alle sind bewegt. Applaus brandet auf. Die beiden Regisseure Daniel Wetzel und Helgard Haug erscheinen auf der Bühne. Die Lichter gehen an und offenbaren die Tränen, die wir in den Augen haben. Wir fühlen uns nicht mehr so fremd untereinander.

Kasten: Die „Experten“ auf der Bühne sind genauso wie wir...


**Der Vollzugsbeamte Giannis Mylonas, der sich nolens volens mit der staatlichen Gewalt identifizieren muss, kam rein zufällig zu diesem Job. Nach einem Sieg bei den Balkanspielen 1996 wurde er mit dieser Stelle ausgezeichnet, wie er sagt. „Seit 2001 bin ich im Gefängnis und bis zu meiner Rente werde ich zweimal lebenslänglich dort verbracht haben“, fügt er hinzu. Dann singt er unter Musikbegleitung Savvopoulos´ „Wenn ich aus diesem Gefängnis geh“, und die hundert Teilnehmer bilden eine Menschenkette, die auf der kreisrunden Leinwand wir eine DNA-Spirale wirkt.
**Die Leiterin der Abteilung für „Personalentwicklung und Humankapital“ eines großen multinationalen Konzerns, die bekennt, dass sie gezwungen war, Freunde zu entlassen. Sie ähnelt einem zeitgenössischen Hephaistos, der seine Kunst verflucht, als er gezwungen wird, gegen seinen Willen Prometheus an den Felsen zu schmieden.
**Der Militärdienstverweigerer Lazaros Petromelidis erläutert, warum er sich zwischen Gesetz und Gewissen für Letzteres entschieden hat, trotz all der negativen Folgen. „Ich wollte mich nicht dem Dienst an der Heimat verweigern. Ich wollte meinen Militärdienst in einem Altersheim oder einer anderen Institution ableisten, aber ich wollte nicht das Töten erlernen. In den 80er-Jahren war das in Griechenland unmöglich“, sagte er. Seit damals musste er 16mal vor Gericht und wurde dreimal zu Gefängnisstrafen verurteilt. Was ist sein persönlicher Gewinn? „Nunmehr kann mein Sohn sich frei entscheiden.“
**Der 67jährige (ehemalige) Bauunternehmer, der von den „Verbrechen“ erzählt, die in der Juntazeit im Athener Ortsteil Kallithea begangen wurden: „Man hat das Meer zugeschüttet. Seit damals sehen wir die Akropolis nicht mehr.“
**Der Arzt, der erzählt, wie er in den 80er-Jahren ein ertrunkenes kleines Mädchen durch künstliche Beatmung reanimiert hat.
**Der Architekt Andreas Kourkoulas (des Neuen Benakis-Museums) sprach über das Verhältnis von Demokratie und Raum und hob die Notwendigkeit hervor, die Stadt und ihre Demokratie zu schützen und zu verteidigen, unter Verweis auf das Beispiel der Bewohner des Athener Stadtteils Exarchia.

 


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