Hochprozentiges Erinnern

Wenn das Gießener Regiekollektiv Rimini Protokoll sich Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" vornimmt, kommt nicht etwa angestaubtes Guckkastentheater heraus. Im Zürcher Schauspielhaus rekonstruierten sie die Uraufführung von 1956 - als vielschichtiges Erin

Von Christine Wahl

22.06.2007 / Spiegel (online)

"Lieber Gott, mach doch, dass dem Dürrenmatt heute nichts einfällt", betete Bibi Gessner vor 51 Jahren inbrünstig. Jedenfalls drei Wochen lang. Als Direktionssekretärin am Schauspielhaus Zürich hatte sie in Hochgeschwindigkeit immer neue Textkonvolute des Dramatikers zum "Besuch der alten Dame" abzutippen. Denn die "tragische Komödie" erlebte dort am 29. Januar 1956 ihre Uraufführung.

Auch für Richard Merz waren diese Wochen kein Winterspaziergang: Als Assistent des Uraufführungsregisseurs Oskar Wälterlin - wegen seiner Vorliebe für fixe Betonungen hausintern auch "der Betonierer" genannt - musste er akribisch niederschreiben, an welchem Punkt der Bühne die große Therese Giehse als gnadenlose Claire Zachanassian ihrer Sänfte zu entsteigen hatte.

Und im Studio des Schweizer Fernsehsenders DRS schaute unterdessen eine nervöse Moderatorin namens Eva Mezger auf ihre Füße. Sie schwört bis heute Stein und Bein, dass die vor Aufregung geschrumpft seien und beneidete damals alle Mitmenschen grenzenlos, die gerade bei der Dürrenmatt-Uraufführung im Zürcher Schauspielhaus sitzen durften, anstatt lampenfiebrig durch eine TV-Sendung führen zu müssen.

Das Gießener Regiekollektiv Rimini Protokoll, diesmal wieder in vollständiger Besetzung mit Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, hat am Ort des Geschehens die Uraufführung von Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" rekonstruiert und wie immer sicheres Gespür beim Casting seiner "Alltagsexperten" bewiesen. Riminis Bühnenausflüge in wechselnde Lebenswirklichkeiten dürfen mit Fug und Recht als Revolution des dokumentarischen Theaterbegriffs bezeichnet werden. Statt Schauspielern treten hier Spezialisten aus den betreffenden Realitätszusammenhängen auf - in der Rolle ihrer selbst.

 
Im Dialog mit Alltagsexperten

Unter dem Motto "Call Cutta" beispielsweise, schickten sie ihr Publikum von einem Callcenter in Kalkutta aus per Mobiltelefon auf Erkundungstrip durch Berlin-Kreuzberg; und in ihrem großartigen "Wallenstein" fanden sie die Motive des Schiller-Dramas - Krieg, Verrat, Intrige - unter heutigen CDU-Politikern, Vietnam-Veteranen und DDR-Dissidenten. Assoziationen an den vordergründig politisch-agitatorischen Enthüllungsgestus der Dokumentartheatraliker der sechziger und siebziger Jahre sind also umgehend beizulegen: Statt von einer schlicht zu enthüllenden Kategorie wie Wahrheit auszugehen, legt Rimini Protokoll vielmehr die Mechanismen offen, nach denen vermeintliche Wahrheiten konstruiert werden. Zudem erliegen die modernen Wirklichkeitsrechercheure, die für ihre Variation über Karl Marx" "Kapital" soeben mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurden, nicht der seligen Naivität, einfach die Realität auf die Bühne holen zu können. Sondern es geht ihnen - umgekehrt - darum, die theatralischen Qualitäten in der Wirklichkeit aufzuspüren.

Im "Besuch der alten Dame" wird genau dieses Nachdenken über den relativ hochprozentigen Fiktionsanteil des vermeintlich Authentischen - und damit Riminis eigene Arbeitsweise - explizit zum Thema. Über die vielfältigen Perspektiven aufs konkrete Ereignis hinaus, die sich durch die unterschiedlichen Biografien der jeweiligen Spezialisten bei Riminis cleverem Casting zwangsläufig ergeben, fokussiert die Truppe diesmal sozusagen auf der Metaebene den hoch komplizierten Erinnerungsprozess.

Von wo genau kam noch mal im zweiten Akt, sechstes Bild, Claires todgeweihter Ex-Lover Ill? Und wie war das mit der Beweglichkeit von Frau Giehses rollenbedingter Handprothese? Sind überhaupt alle Szenenfotos aufführungsgetreu, oder wurde da für ehrgeizige Fotografen schon mal ein Bild gestellt? Darüber geraten die mittlerweile ins Rentenalter gekommenen Kinderchor-Sänger aus Akt eins, der Bühnenbauer und zwei ehemalige Zuschauer immer wieder mit dem Ex-Regieassistenten Merz - später Theaterkritiker und mittlerweile praktizierender Psychoanalytiker und Tanzhistoriker - in liebevolle Dispute.

 
Folgen im Zuschauerkopf

Um diesen Befund vom trügerischen Gedächtnis, sei es nun individuell oder kollektiv, leitmotivisch zu Tage treten zu lassen, hat Rimini Protokoll die '56er-Uraufführung - ganz klassisch entlang der Drei-Akt-Dramaturgie - zu rekonstruieren versucht. Da treten lebensgroße Pappmaché-Remakes von Giehse und Co. mit den Alltagexperten in Dialog, borgen sich die Akteure vom Schnürboden schwebende Szenenumrisse, spiegelt sich die Direktionssekretärin in der unerbittlichen Milliardärin.

Diese vielfache Übermalungsdramaturgie, die so zum Erinnerungsmoment auch undidaktisch die zentralen Stückmotive - Korruption, Gerechtigkeit, Rachsucht - einbezieht und zusätzlich mit den biografischen Experten-Geschichten sowie Exkursen in die Schweizer und die Weltpolitik der fünfziger Jahre überschreibt, ist zweifellos von großer gedanklicher und konzeptioneller Komplexität. Nur schlägt sich das auf der Bühne leider nicht immer nieder. Neben tollen Szenen gibt es in drei Stunden vieles, was sich wiederholt; und Rimini Protokoll muss aufpassen, dass die Expertengeschichten nicht zunehmend in perfekte Anekdoten abdriften, die zwar Spaß machen, aber keine großen Folgen im Zuschauerkopf hinterlassen.

An die Komplexität von "Wallenstein" oder Stefan Kaegis toller Schweizer-Modellinszenierung "Mnemopark" kommt "Der Besuch der alten Dame" jedenfalls nicht heran. Dennoch, kuschelt sich Rimini Protokoll nicht im Bewährten ein. Die Uraufführungsrekonstruktion setzt - anders als viele früheren Rimini-Inszenierungen - auch auf eine Vielfalt szenischer Vorgänge und Darstellungsweisen und betritt mit dem Ausblick auf den "Besuch der alten Dame" in einundfünfzig Jahren sogar Neuland: Große Teile des dritten Aktes werden von Kindern nachgespielt.


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Uraufführung: Der Besuch der alten Dame