Herr Ngu aus Halle 8

Vietnam in Berlin: Das Hebbel am Ufer lädt zum Großmarktrundgang – und zum Festival

Von Jan Oberländer

22.11.2010 / Der Tagesspiegel

Anthony Chu hat einen Plan. Der Geschäftsmann steht in einem Wohnwagen auf dem Gelände des Dong- Xuan-Großmarkts im Industriegebiet Lichtenberg und präsentiert seinen Gästen, die eingezwängt am Campingtisch sitzen, eine Wand voller Schwarz-Weiß- Fotos. Nach dem Vorbild des historischen Markts gleichen Namens in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi will Chu auch in Berlin einen „Markt der 36 Zünfte“ aufbauen, die Silberschmiede sollen hier ihren Platz haben, die
Papierhändler, die Korbflechter. Dong Xuan, das bedeutet „Frühlingswiese“, und auch eine solche will Chu auf dem Marktgelände anlegen: 2000 Quadratmeter Fläche will der 48-Jährige auf dem Gelände des 2005 gegründeten Handelszentrums neu nutzen, ganze zwei Drittel davon sollen zu einem „asiatischen Garten“ werden, zu einer Ruhezone inmitten des Trubels der Markthallen. „Wir arbeiten so viel“, sagt Chu, „wir brauchen Entspannung.“ Sein Zünfte-Projekt, sagt er, sei eine Erinnerung an seine Jugend in Vietnam – und zugleich ein Traum für seine Zukunft hier, in Berlin.

Anthony Chu trifft, wer an einer der vom Hebbel am Ufer organisierten Touren über das Großmarktgelände teilnimmt. Der von Theaterchef Matthias Lilienthal und der Autorin Gesine Danckwart kuratierte Kulturspaziergang führt Besucher in Fünfergruppen auf zwei Routen über das ehemalige Werksgelände des VEB Elektrokohle, durch verrottete Industrieruinen und vollgestopfte Markthallen, in Friseursalons und Schneidereien, in Restaurants und Tätowierläden.
Das Prinzip hat sich in HAU-Klassikern wie den ebenfalls von Lilienthal konzipierten „X Wohnungen“-Stadttouren bewährt. Auf jeder Station auf dem Weg beleuchten Künstler, Designer, Autoren, Film- und Theatermacher einen anderen Aspekt vietnamesischen Lebens in Berlin: historisch, dokumentarisch, poetisch, musikalisch, kulinarisch. Die Touren bilden den Auftakt zu einem ganzen Festival, das passenderweise ebenfalls „Dong Xuan“ heißt – das Programm ist so bunt wie das Angebot der 250 Händler auf dem Areal.

Rund 13 000 Vietnamesen leben heute in Berlin, bundesweit sind es 115 000. Boat people wie Anthony Chu kamen nach Ende des Vietnamkrieges Ende der siebziger Jahre nach Deutschland, nach der Wiedervereinigung Vietnams 1976 zur Sozialistischen Republik flohen Hunderttausende unter oft dramatischen Umständen über das südchinesische Meer, nach Schätzungen kamen eine halbe Million Menschen dabei ums Leben. Die Bootsflüchtlinge wurden in der Bundesrepublik als „Kontingentflüchtlinge“ aufgenommen, sie hatten unbegrenzten Aufenthaltsanspruch, durften arbeiten, bekamen Sprachkurse und soziale Beratung.

Der Designer und Künstler Truong Ngu hat 1978 mit seinen Eltern Hanoi verlassen, 1980 kamen die Ngus nach Essen, 1994 zog die Familie nach Berlin. Die Fluchtgeschichte seiner Familie hat der 35-jährige Truong in einem Brettspiel verarbeitet. Zusammen mit der Besuchergruppe sitzt er in einem Snackshop in der Großmarkthalle 8. Die Spieler würfeln sich von Hanoi in ein chinesisches Zwischenlager, von dort in Richtung Küste – und endlich nach Hongkong, zum Flughafen. Ein letztes Würfeln: Mit einer Sechs geht es in die mythenumrankten USA, ins unbekannte Deutschland kommt man mit einer Zwei. Am Ende darf die Siegerin sich ein Dessert aussuchen.

Aber es gibt auch eine ganz andere vietnamesisch-deutsche Geschichte. In einer Lagerhalle sitzen Do Quang Nghia, Nguyen Van Loi, Cao The Hung und Nguyen Hung Son auf einer Couch, zur Klampfe schmettern sie ein vietnamesisches Lied, das sie schon als Lehrlinge in ihren DDR-Betrieben gesungen haben: „Das Leben bleibt schön und die Liebe auch.“ Auf dem Couchtisch häufen sich alte Ausweise, FDJ-Urkunden, Fotoalben, daneben steht eine Kanne grüner Tee. Hier sitzen echte Menschen, wie stets bei Helgard Haug und Daniel Wetzel. Ihre Dokutheaterformation Rimini Protokoll lässt „Experten des Alltags“ erzählen.
Ab 1980 wurden Vertragsarbeiter aus Vietnam ins Bruderland DDR entsandt, 80 000 Männer und Frauen waren es Ende der achtziger Jahre. Viele von ihnen wurden ausgegrenzt und nach dem Ende der DDR offen diskriminiert – so schreiben es Uta Beth und Anja Tuckermann in ihrem 2008 veröffentlichten Buch „Heimat ist da, wo man verstanden ist“. Ein Grund für die Fremdenfeindlichkeit war wohl, dass ein Zusammenleben mit den Gastarbeitern nicht vorgesehen war. Die Vietnamesen lebten isoliert in Heimen, lernten nur das nötigste Deutsch.

Da passt es, wenn auf der nächsten Station im alten Badehaus des VEB Elektrokohle aus Heiner Müllers „Lohndrücker“ gelesen wird – auf Vietnamesisch. Wie baut man eine neue Gesellschaft auf? Wo bleibt der Mensch hinter dem Sozialismus? Auch in Lichtenberg wurden Vertragsarbeiter eingesetzt.

Herr Hung jedenfalls, der Mann mit der Gitarre, erinnert sich gern an seine Zeit im Lehrlingsheim in Weimar. „Die Leute waren nett zu uns, weil wir jung und schön waren“, lacht der 49-Jährige. Die Kollegen aus der Mongolei seien jedenfalls viel seltener zu Partys eingeladen worden. Das ist verständlich: Mit der fröhlichen Herrenrunde hätte man gern einen ganzen Abend verbringen mögen. „Und heute? Wie geht es Ihnen im vereinten Deutschland?“ Keine Zeit für die Frage, die nächste Gruppe wartet.

Ngo Canh Huynh, 1986 geboren, geht es nicht gut in Deutschland. Weil er nicht bleiben darf. Er habe Todesangst, nach Vietnam zurückzukehren, sagt er, vermittelt durch eine Übersetzerin. Seine Familie versetzte ihr Haus an einen Kredithai, um einen Schlepper zu bezahlen. In Deutschland verkaufte Huynh illegal Zigaretten, um seine Schulden abzubezahlen, wurde immer wieder verhaftet. Sein Asylantrag kam nicht durch. Bis Ende des Monats ist er geduldet. Und dann? Huynhs Freundin ist schwanger, auch sie wird abgeschoben. Die Schulden sind kaum weniger geworden. Der junge Mann zündet sich eine Zigarette an. Cool. Oder? Er steht auf und steckt sie an den Hausaltar, der an der Wand hängt. Dann schreibt er mit Filzstift sein Lebensmotto an die Wand: „Gib nicht auf in schwerer Zeit.“ Es steht da schon viele Male, Graffiti wie in einer Gefängniszelle. Und einer von vielen anderen Puzzlesteinen dieser horizonterweiternden Tour, die am Ende zeigt: Auch in Deutschland gibt es nicht nur ein und nicht nur zwei, es gibt viele Vietnams.

Weitere Touren am 24. und 25. November, 15 bis 18 Uhr, Tourenstart im Zehn- Minuten-Takt. Start: Industriegebiet Herzbergstraße. Das „Dong Xuan“-Festival läuft noch bis 27. November. Programm und Informationen unter www.hebbel-am-ufer.de

 

http://www.tagesspiegel.de/kultur/herr-ngu-aus-halle-8/3156910.html


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