Hamlet als Hamlet, Gretchen als Gretchen

Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel bringen als "Rimini Protokoll" noch stets die Wirklichkeit auf die Bühne

Von Florian Malzacher

/ Frankfurter Rundschau

Letzte Worte. Die gibt es eigentlich nicht, meint Krankenpflegerin Sabine Herfurth. Außer vielleicht: Mama. Das ist es, was alle am Ende sagen, rufen, flüstern. Mama. Manchmal tagelang. Dass sich der Kreis schließt. Vom ersten Wort zum letzten.

Vorher aber, da wird viel geredet, denn wer redet, lebt. Kann sich seinen Tod ausmalen, wie Hans-Dieter Illgner, Bürgermeister a. D. und Initiator eines Krematoriums, das er Flammarium nennt. Seine Beerdigung hat er bereits organisiert, warum die Angehörigen damit belasten. Olav Meyer-Sievers, ein eloquenter junger Mann, redet für andere, denen gerade die Worte fehlen, über andere, denen sie nun immer fehlen: Er ist Trauerredner. Auch für Hilmar Gesse, den Steinmetz, wird jeder Mensch zu Buchstaben, das Stück zu sieben Euro. Und von Alida Schmidt, die als Medizinstudentin Leichen zur Sezierung vorbereitet, soll nur ein Zeichen bleiben: ihr Tattoo, das sie ihrer Zwillingsschwester vermacht.

Das eigene Wort, das eigene Zeichen - immer sind sie Mittelpunkt der Arbeiten des Regiekollektivs Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel: Auf ihren Bühnen stehen alte Damen, Kids, Physiker, Schwarzfahrer, Paare, Passanten - nicht als Rolle sondern in Person. Unter dem Label Rimini Protokoll (oder in der Konstellation von Stefan Kaegi mit Bernd Ernst als Hygiene Heute) holen sie "das Leben" ins Theater, "echte Menschen". Was missversteht, wer glaubt, die Wirklichkeit sei nicht inszeniert und die Wahrheit allein das Authentische.

In "Deadline" stehen nun Bürgermeister, Steinmetz, Trauerredner und Medizinstudentin verstreut im Neuen Cinema, der Noch-Off-Spielstätte des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, die Anfang Mai als symbolisches Finanzopfer geschlossen wird, und erzählen von sich und ihrem Umgang mit dem Tod, der ihr Alltag ist. Die Geschichten sind ernst, die kleine Bühne erinnert an eine Friedhofskapelle, ein paar Kränze, ein Bühnensockel zum Aufbahren, das Porträt eines alten Mannes.

Entspannte Atmosphäre

Doch die Atmosphäre ist entspannt, und wenn mal der Atem stockt, weil die Rede ist von einem, der mitspielen wollte, aber nur noch einen Monat zu leben hat (und das Stück soll doch bis Jahresende laufen), dann hebt schnell eine heitere Ablenkung wieder die Stimmung.

Anders als die italienische Truppe Raffaelo Sanzio, die Mager- und Fettsüchtige, Einarmige und Kehlkopfamputierte als intensiven Zusammenprall von körperlicher Präsenz und symbolischem Gehalt setzt, und anders auch als Christoph Schlingensief, der Behinderte, Neonazis und Arbeitslose ins Bild rückt, stehen bei Rimini Protokoll die Menschen als Individuen auf der Bühne.

Inszeniert sind sie dennoch, oft unmerklich, doch nicht zu knapp. Denn diese Stücke sind kein Doku-Theater. So aufrecht das Interesse der ehemaligen Gießener Theaterwissenschaftsstudenten an den Menschen und deren Geschichten ist - es ist ein theatralisches. Begründet im Misstrauen gegen das Repräsentationsschauspiel mit seinen Repräsentationsschauspielern; eine ästhetische, eine philosophische Überlegung, keine politische oder sozialarbeiterische.

Frühere Arbeiten von Bernd Ernst und Stefan Kaegi als Hygiene Heute drehten sich um die puristische Frage, welche Rolle man spielt, wenn man keine spielt. Mit "Readymade-Darstellern" inszenierten sie eine deutsche Dogge, Ameisen und, anlässlich der Eröffnung des Wiener Tanzquartiers den historischen "Wiener Kongress" als Meerschweincheninstallation. Ihre Kirchner-Audiotouren ordneten dann humorvoll und hintergründig gleich den gesamten Straßenalltag ihrer Tonspur und ihrer Geschichte unter.

Die Frage, der Rimini Protokoll nachgeht, hat sich indes verschoben: Nun geht es vor allem um die spezifische Nähe zur Figur, die man zwar selbst ist, die man aber dennoch performt: Was passiert, wenn Hamlet tatsächlich Hamlet ist und kein Schauspieler: Im Frankfurter Mousonturm setzten sie unter dem Titel Kreuzworträtsel Boxenstopp das Phänomen Altwerden mit dem Phänomen Geschwindigkeit in gedankliche, ästhetische aber auch narrative Spannung - mit vier Damen um die Achtzig als Formel-1-Rennfahrerinnen. In Shooting Bourbaki parallelisierten sie den Schweizer Neutralitäts- und Geschäftstüchtigkeitsmythos von Bourbaki mit pubertären Schießspielträumen.

Die unverwechselbare Stärke dieser Arbeiten liegt vor allem dort, wo trotz der Nähe ein Spalt auftritt zwischen Rolle und Persönlichkeit - und mit ihm eine Ahnung vom Risiko, das Leben könnte Überhand gewinnen, das Theater die Kontrolle verlieren über sich selbst.

Die Möglichkeit des Unberechenbaren, des Zufalls und des Unfalls, ist immer konstitutiv für das Theater - doch während der sich versprechende Schauspieler vor allem zum Witz taugt, ist die Verletzlichkeit der Performer bei Rimini Protokoll stets präsent. Hier liegt das Versprechen verborgen, Kunst könne doch die Wahrheit sein. Und diese Wahrheit ist archaisch: "Das Spezifische am Theater ist eben nicht die Präsenz des
lebenden Zuschauers, sondern des potentiell sterbenden", sagt Heiner Müller.

Doch ausgerechnet in "Deadline", wo der Tod so explizit das Thema ist, lässt sich von dieser Präsenz wenig spüren: Die Geschicklichkeit mit der Rimini Protokoll Geschichten ineinander verwebt, die Ebenen von Sprache, Bewegung, Licht, Ton und Videoeinspielung verschiebt, die Tempi variiert, ist bestechend; die Regisseure verstehen klassisch dramaturgisches Handwerk.

Nie werden die Menschen auf der Bühne verraten oder gar bloßgestellt, die Worte, die Gesten sind die ihren, nur werden sie anders arrangiert. Doch diesmal scheinen sie sich hinter ihnen zu verstecken und die Regisseure mit ihnen - es bleibt ein Gefühl der Feigheit vor dem Feind. Der wird sorgfältig umrundet, fast lückenlos in allen Facetten lehrreich abgearbeitet: Krankenhäuser, Testamente, Beerdigungen, Obduktionen, Statistiken, Bühnentode. Das alles dreht sich so schnell, dass man nicht sieht, worum. Die Inszenierungen von Rimini Protokoll stehen und fallen mit der Präsenz und Kraft der Performer und mit dem Mut, mit dem sie sich selbst stellen.

Beides kam diesmal etwas zu kurz. Rimini Protokoll kann das Leben auf eine Weise auf die Bühne bringen wie kein anderer. Der Tod allerdings, nach Benjamin die Autorität am Ursprung allen Erzählens, ist diesmal
anderswo. Im wahren Leben wäre das ein Hauptgewinn.

Weitere Vorstellungen: Vom 1. bis 4. Mai im Neuen Cinema, Hamburg; am 13. und 14. Juni am Schauspiel Hannover und im Dezember im Hebbel-Theater, Berlin.


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