Ernüchterte Spielsucht

Geschichte zerrinnt in Geschichten, Theorie zerbröselt in der Erfahrung: Das Düsseldorfer Schauspielhaus bringt "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" von Rimini Protokoll auf die Bühne

Von Regine Müller

08.11.2006 / taz

Es ist das Schicksal vieler berühmter, folgenreicher Schriften, dass sie in Wahrheit heute nur von wenigen Menschen gelesen werden. Karl Marx' Hauptwerk "Das Kapital", drei Bände schwer, nur einer von ihnen zu Lebzeiten des Autors erschienen, ist so ein Fall. Vom "Gebrauchswert", "Fetischcharakter der Waren" und der "Entfremdung der Arbeit" hat man ja eine Vorstellung, doch deshalb tausende Seiten dröger Theorie durchkauen?

"Das Kapital" auf die Bühne bringen zu wollen, mutet wie eine Flucht nach vorn an, doch die experimentelle Autoren-Theater-Gruppe Rimini Protokoll hat sich bekanntlich noch nie vor Überkomplexität gefürchtet. Denn Rimini Protokoll interessiert sich wenig für herkömmliche Textexegese, bündige Zuspitzung einer zentralen Aussage oder gar ästhetische Überhöhung; überhaupt findet das Theater von Rimini Protokoll oft auch gar nicht im Theater statt.

In Düsseldorf aber doch, denn dort ging die Uraufführung von "Das Kapital, Erster Band" als Koproduktion mit dem HAU Berlin, und den Schauspielhäusern Zürich und Frankfurt nun im Kleinen Haus über die Bühne. Eine morsche Bibliothek, die zugleich Wohnstatt ist mit Klappbett, Plattenspieler und Kaffeemaschine bildet die Szene, auf der acht Protagonisten (darunter nur eine Frau) agieren und ihre jeweilige Geschichte erzählen. Das Personal entstammt dem wirklichen Leben. Es sind die so genannten Experten des Alltags, die Rimini Protokoll auf die Bühne holt.

In diesem Fall ist jeder für sich ein Experte für Geld, Pleiten, die große und die kleine Politik und das Phänomen "Kapital" mit, aber auch ohne Marx. Die systematische und sorgfältige Auswahl der Akteure spielt bei Rimini Protokoll eine entscheidende Rolle; auch diesmal steht und fällt die Dramaturgie des Abends durch die stimmige Mischung der Typen und ihrer teils bizarren Beziehung zum Thema.

Da ist zum Beispiel Thomas Kuczynski, Statistiker und Wirtschaftstheoretiker, der sich seit vierzig Jahren mit dem "Kapital" von Marx beschäftigt, an einer kritischen Ausgabe arbeitet und freihändig zitieren kann. Seine Haltung ist sachlich, aber durchsetzt von schelmischer Ironie. Dann ist da Jochen Noth, KBWler, 68er Sponti-Akteur, zeitweise Maoist mit langjähriger China-Erfahrung, heute Unternehmensberater im grauen Flanell- Dreiteiler, parteilos und FAZ-Leser. Noth wirkt ernüchtert, ein bisschen zynisch, aber auch er ist sattelfest in der Theorie.

Die meisten der Experten sind aber vor allem Experten der eigenen Erfahrungen und einer Realität, die noch immer "nach dem Golde drängt", wie ja Goethes vormarxistisches Gretchen bereits klagte. Und zumeist bekennende Nichtleser von Marx, wie der Elektroniker Ralph Warnholz, früher kämpferischer Gewerkschafter, dann spielsüchtiger Zocker, heute kuriert und schwer verschuldet. Warnholz glaubt an nichts mehr und bekennt sich als käuflich. Als Moderator mit eigenwilligem Charme und leisem Humor fungiert der blind geborene Call-Center-Agent Christian Spremberg, der mit alten Werbesongs zum Thema Geld und Pleiten aus seiner Plattensammlung eine melancholische Tonspur liefert. Spremberg liest "Das Kapital" aus einem Folianten in Blindenschrift, gehört aber einer postideologischen Generation an und berichtet spöttelnd von seinen vergeblichen Versuchen, endlich bei "Wer wird Millionär?" gecastet zu werden.

Erst spät ins Spiel kommt der Coach und Autor Ulf Mailänder, der als einziger nicht aus erster Hand berichtet: Er ist nämlich nur der Biograf des Anlagebetrügers Jürgen Harksen und des Baulöwen Jürgen Schneider und damit ein intimer Kenner hochstapelnder Psychopathologien des Turbokapitalismus.

Bisweilen klettern die Darsteller selbst ins Bücherarchiv und machen mit ihren Erfahrungen keine schlechte Figur neben den Marx-Büsten. So setzt sich ein heiteres und ironisches Kaleidoskop verschiedener Perspektiven zusammen. Trotzdem bleiben die erhellenden und intelligent montierten Geschichten in der Summe doch eine Kette von Histörchen, die der Wucht der Theorie nur Episoden entgegenhalten. Von einer neuen, kritischen Lesart kann oder wollte wohl auch keine Rede sein.

Wo endet das Authentische, wo beginnt das Spiel? Das ist, wie so oft, bei Rimini Protokoll nicht zu entscheiden und für ihr Bild der Wirklichkeit ebenso wie für ihr Verhältnis zu Marx eine zu vernachlässigende Frage. Fazit: eine weitere, wenn auch nur spielerische Fußnote zu Marx, mehr nicht. Aber durchaus unterhaltsam und nie langweilig.

Aufführungstermine unter:
www.rimini-protokoll.de

taz Nr. 8120 vom 8.11.2006, Seite 16, 153 Kommentar REGINE MÜLLER, Rezension

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