Einer wie du und ich

Schillers „Wallenstein“ – im Berliner HAU unerhört verhört vom Rimini Protokoll

Von Christine Wahl

29.10.2005 / Der Tagesspigel

Das politisch korrekteste Gericht sind Spaghetti mit Tomatensoße. Shrimps, erklärt Dr. Sven-Joachim Otto, der 1999 als CDU-Politiker für das Mannheimer Oberbürgermeisteramt kandidierte, verprellen die schlechter verdienenden, Hausmannskost schreckt die bildungsbürgerlichen und Spaghetti Bolognese ärgern die vegetarischen Wähler. Spaghetti mit Tomatensoße hingegen sei weder zu spießig noch zu exotisch und für alle erschwinglich.

Otto, der 2004 einer Intrige seiner Parteifreunde zum Opfer fiel, ist Wallenstein in der dokumentarischen Schiller-Inszenierung von Helgard Haug und Daniel Wetzel. Die Theater-Rechercheure, die uns gemeinsam mit ihrem Kollegen Stefan Kaegi unter dem Label Rimini Protokoll zuletzt per Mobiltelefon von einem Call Center in Kalkutta aus durch Kreuzberg führten, erproben ihre dokumentarische Methode erstmals an einem Dramentext. Für die Koproduktion des Nationaltheaters Mannheim mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar, die jetzt im Hebbel am Ufer in Berlin gastiert, trugen sie die gelben Reclam-Hefte in Führungsetagen und Bundeswehr-Kasernen. Sie fragten Vietnam-Veteranen sowie Mannheimer und Weimarer Bürger, wo sie Aufstieg und Fall des populären Feldherrn, die Motive von Verrat, Gehorsam, Unterwerfung und Protest oder das Kriegsszenario schlechthin in ihrer eigenen Biografie wiederfinden.

Gestoßen sind sie dabei zum Beispiel auf Rita Mischereit, die als stolze Inhaberin einer Partnerschafts- und Seitensprung-Agentur im kleinen Schwarzen würdig die Gräfin Terzky vertritt und auf deren Handy während der Vorstellung ständig Wolfgangs und Heikos anrufen, die wissen wollen, ob sich auch Ausländerinnen in ihrer Kartei befänden. Oder auf Ralf Kirsten, den man aus dem Polizeidienst der DDR entließ, weil er „den Staatsfeind in den Reihen der eigenen Familie“ beherbergte. Über Kirsten war Ende der Achtzigerjahre sozusagen der Max-Piccolomini-Konflikt hereingebrochen, weil er sich in eine der Republikflucht verdächtige Frau verliebte. Inzwischen ist er von ihr geschieden und Weimarer Polizeichef.

Schon an der reinen Textoberfläche ist das Theater von Rimini Protokoll (wie viele dramatischen Projekte können das schon von sich behaupten?) außergewöhnlich aufschlussreich. Hier erfährt man in straffen hundertzwanzig Minuten, dass man bei Frau Mischereit für 30 Kontaktadressen 140 Euro bezahlt, wo man sich für „naturverbundene“ und „familienfreundliche“ Wahlkampf-Broschüren im Bedarfsfall Kinder und Haustiere ausleiht oder dass es sich – wie Herr Brendel, der als ehemaliger Oberkellner des Weimarer Hotels Elephant die gesamte realsozialistische Führungsspitze bediente – bei Erich Honecker um „einen wie dich und mich“ handelte, während der rumänische Diktator Nicolae Ceausescu sich mit Leibköchen in seiner Suite zu verschanzen pflegte.

Aber dieser „Wallenstein“ gibt nicht irgendwelche biografischen Zufallsanekdoten aus Liebe, Krieg und Frieden zum Besten, sondern weiß in jedem Moment genau, was er will. Rimini Protokoll hält sich minutiös an die dramatische Struktur der Trilogie, spielt mustergültig aus, was ein klassisches retardierendes Moment hergibt und verschränkt die Theatersituation so raffiniert mit der Selbstdarstellung der Akteure, dass man ständig hin- und hergerissen wird. Und wenn es angesichts der Tatsache, dass hier bestenfalls zwanzig Schiller-Verse vorkommen, nicht so absurd klänge, könnte man bei dieser „Wallenstein“-Überschreibung fast von Werktreue sprechen Christine Wahl


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