Ein Herz kann man auch reparieren

Die Theatertruppe Rimini-Protokoll zeigt in Zürich ihr Stück "Blaiberg und Sweetheart 19"

Von Roland Müller

05.04.2006 / Stuttgarter Zeitung

Was kann man nicht alles mit einem Herzen machen! Man kann es erobern und verlieren, verschenken und brechen, verzaubern und betrüben. Man kann es auf der Zunge tragen und vor Freude überfließen lassen, zum Rasen und zum Stillstand bringen. Und man kann es massieren und operieren, entfernen und einsetzen, transportieren und transplantieren. Und - last, not least - auch braten, kochen und verspeisen: Am Ende von "Blaiberg und Sweetheart 19", dieser ausgreifenden theatralischen Recherche rund um das Zentralorgan von Mensch und Tier, bereitet eine reale russische Heiratsvermittlerin ein real geschnetzeltes Schweineherz zu, streng nach einem Rezept aus ihrer Heimat.

Das Projekt, jetzt im Schiffbau des Züricher Schauspielhauses uraufgeführt, ist so erklärungsbedürftig wie sein rätselhafter Titel: Blaiberg war der zweite Mensch, der mit einem fremden Herzen lebte, nachdem ihm der südafrikanische Chirurg Christiaan Barnard im Januar 1968 die Brust geöffnet und ein neues Organ eingepflanzt hatte. Und Sweetheart 19 ist eine Adresse für Singles, die im Internet einen Partner suchen und finden wollen. Also verknüpft schon der Projektname "Blaiberg und Sweetheart 19" jene Sphären, die auf der Bühne tatsächlich miteinander in Kontakt treten und Funken schlagen sollen: das reale Herz und das metaphorische Herz, der Motor des Blutkreislaufs und der Motor der Gefühlswelt, beide freilich kurz vorm Absaufen, kurz vorm Kollaps. Es geht um das kranke Herz.

Ein weites Feld - und Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel beackern es mit jenen dokumentarischen und journalistischen Mitteln, mit denen sie seit 2002 unter dem Namen Rimini-Protokoll beachtliche Erfolge einfahren. Sie verfrachten das Theater in die Realität, wenn sie - wie in "Sonde Hannover" - ihr Publikum in ein Hochhaus setzen und mit Feldstechern die Einkaufszone überwachen lassen. Und sie verfrachten die Realität ins Theater, wenn sie - wie in "Wallenstein", 2005 bei den Mannheimer Schillertagen - die Rollen in einem Drama nicht mit Schauspielern, sondern mit Laien besetzen, die als aktuelle Entsprechungen der historischen Figuren gelten dürfen: Ein lokaler CDU-Politiker sprach damals Schillersätze über Macht und Ohnmacht. In Zürich stellt das Rimini-Protokoll jetzt eine weitere Spielart dessen vor, was es als "radikale Vergesellschaftung" der Theaterinhalte bezeichnet. In seinem jüngsten Stück treten nur Menschen auf, die "in echt" von Herzensangelegenheiten betroffen sind, also eine Patientin und eine Krankenschwester, eine Partnervermittlerin und ein Flirtexperte, eine Organspenderin und ein Schweinezuchtexperte - sechs Personen, die noch nie auf einer Bühne gestanden haben und nun, kunstvoll arrangiert, sowohl ihre Lebensgeschichte als auch ihr Expertenwissen weitergeben.

Zum Beispiel Heidi Mettler. Seit über fünf Jahren lebt die Frau mit einem neuen Herzen. Sie berichtet von dem Tag, an dem ihr dieses Herz eingepflanzt worden ist, wie sie morgens um 4.15 Uhr von der Schwester geweckt wurde, was sie in der Nacht zuvor träumte und welche Wünsche der Sohn ihr mit in den OP gab: Mach"s gut! Unterbrochen wird ihre Erzählung von Videoeinspielungen, die präzise den Verlauf einer Transplantation nachzeichnen, vom Transport des Spenderherzens mittels Hubschrauber bis hin zum Abschalten der Herz-Lungen-Maschine nach dem Eingriff. Die Funktionsweise dieser auf die Spielfläche geholten Apparatur erläutert Renate Behr, die als Kardiotechnikerin in einem Spital arbeitet - und nun zeitgleich mit den anderen Experten ihren Platz auf der Bühne wechselt, um ein neues Zuschauersegment mit ihren Informationen zu versorgen. Vor uns baut sich jetzt also Nick Ganz auf, der Speedflirting-Abende organisiert und gleich an Ort und Stelle eine Probe seiner Kupplerfähigkeiten abgeben will . . .

Der Zuschauer lernt enorm viel: dank Nick alles über Partnerschaftsbörsen, dank Heidi, Renate und den auf Leinwänden zugespielten Chirurgen alles über Organhandel und Organtransplantationen - und dank dem Veterinär Hansueli Bertschinger auch alles über Schweine. Denn nachdem die Rimini-Protokollanten das Dokumentarische aus beiden Bereichen schon so ineinander geblendet haben, dass die Assoziationen nur so fliegen, setzen sie noch ein Bild, eine Überblendung drauf. Als wär"s das dringend benötigte missing link, bringen sie die Sau ins Spiel, das Sauherz, die Saufortpflanzung, abermals wissenschaftlich exakt. Der Fleischmarkt, von einer ganz anderen Seite betrachtet? Am Ende reitet der Berufssingle Nick auf einem Bullen mit Schweinekopf, während die Patientin Heidi auf die Uhr schaut und sagt: "In fünf Minuten muss ich - für heute - das letzte Medikament einnehmen, damit mein Herz nicht abgestoßen wird."

Zugegeben: streckenweise leidet der Abend unter dem enormen Technikaufwand - und das dokumentarische Theater ist auch keine Erfindung von Rimini-Protokoll. Aber das Verfahren, das die drei Künstler in den vergangenen vier Jahren entwickelt haben, funktioniert prächtig. Wenn sie die gut recherchierte Wirklichkeit umarrangieren und verfremden, beginnt sie poetisch zu funkeln.

 

 


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Blaiberg und sweetheart19