Die Menschen hinter der Statistik

Das Berliner Hebbel-Theater feiert mit Rimini-Protokoll und Karaoke seinen 100. Geburtstag

Von Karim Saab

06.02.2008 / Märkische Allgemeine

 BERLIN - Am Wochenende beging das Berliner Hebbel-Theater mit einer denkwürdigen Feier seinen 100. Geburtstag. Das Mahagoni-getäfelte Jugendstil-Haus in der Kreuzberger Stresemannstraße firmiert heute unter dem Namen HAU 1, nachdem es vor vier Jahren mit zwei benachbarten Spielstätten zum experimentierfreudigen Theaterkonzern „Hebbel am Ufer“ fusioniert worden ist.
Nichts lag näher, als das Regiekollektiv Rimini-Protokoll zu bitten, der wechselvollen Theatergeschichte eine unverwechselbare Facette hinzuzufügen. Denn nachdem hier Stars wie Erwin Piscator und Hans Albers, Harald Juhnke und Pina Bausch ihren jeweiligen Zeitgeistern auf die Sprünge geholfen haben, gebührt der Ruhm Anfang des 21. Jahrhunderts zweifellos der Gruppe Rimini-Protokoll. Mit ihren bisherigen Inszenierungen im HAU haben die drei jungen Regisseure immer wieder gezeigt, dass zeitgenössische Bühnenkunst das Getümmel auf der Straße sehr unmittelbar einbeziehen kann.
Das Erfolgsrezept ging auch in „100 Prozent Berlin“ auf. Zur Feier der Jahre wurden stolze 100 Laien auf die Bühne gestellt, die sich – das ist die Grundidee – stets selber darstellen. Gecastet wurde lediglich der erste: ein Bevölkerungsstatistiker. Die restlichen 99 Berliner haben sich dann der Reihe nach selber gefunden. Voraussetzung war lediglich, dass jeder Erwählte nach Alter, Stadtbezirk, Staatsangehörigkeit, Familienstand und Geschlecht in die repräsentative Auswahl passt.
Dass keine Langeweile aufkommt, wenn sich 100 Individuen hintereinander kurz vorstellen, spricht allein für die Kunstfertigkeit dieser neuen Form des Dokumentartheaters. Jeder durfte ein Attribut mit sich führen, um sich selbst zu charakterisieren, egal ob Fan-Schal, Notenblatt oder Gartenbank. Die Menschenkette formierte sich im ersten Bild auf dem Außenkreis der Drehbühne, die mit einem an die Rückwand projizierten Tortendiagramm korrespondiert.
Im zweiten Bild stellten sich die Hundert gegenseitig Fragen, um sich als Menge in Windeseile unter den Schildern „Ich“ oder „Ich nicht“ zu formieren. „Wer lässt Geld für sich arbeiten?“ (– Sehr wenige.) „Wer war schon einmal im Gefängnis?“ (– Überraschend viele.) „Wer ist von Ost- nach Westberlin gezogen? (Sechs.) „Wer von West- nach Ostberlin?“ (Vier.) Wer fährt mit der S-Bahn prinzipiell schwarz? (Fünf Prozent.) Im dritten Bild wurden dann durch verschiedene Farbtafeln auch mehrdeutige Antworten möglich.
Wenn die Ergebnisse zum Teil auch überraschend ausfielen, von einem Theaterabend erwartet der Besucher eigentlich keine statistische Bildung. Um so verblüffender ist es, dass es Rimini-Protokoll auch in diesem Fall wieder gelungen ist, das Menschlich-Allzumenschliche in Szene zu setzen. Das liegt sicher auch daran, dass der Zuschauer sich vorbehaltloser mit einem Laien auf der Bühne identifiziert.
Auch der letzte Programmpunkt des Festabends gehorchte diesem Prinzip. Auf der Bühne hatte das 80-köpfige Rias-Jugendorchester Platz genommen, um Ohrwürmer wie „Hey Jude“ (Beatles) oder „Völlig losgelöst“ (Major Tom) zu intonieren. Für ein Karaoke-Singen ein ungewöhnlicher Aufwand! Das eher intellektuelle Publikum um die 45 geriet bei den Darbietungen aus seiner Mitte außer Rand und Band. Vorbei die Zeit, als das Pathos der Originale durch Punk (80er) oder durch Ironie (90er Jahre) gebrochen wurde. (Von Karim Saab)


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