Die Aussicht auf große Möglichkeiten

Der Dritte Ort »Theater« als Messe für Visionen und Biographien

Von Tim Vogler

01.10.2012 / Revue – Magazine for the Next Society Download PDF

Interview von Tim Vogler mit Daniel Wetzel von Rimini Protokoll

»I’m a millionaire« tönt es aus den Boxen. Über der Theaterbühne ist auf einer Großleinwand die nigerianische Börse zu sehen. Quer durch den Zuschauerraum führt ein Laufsteg, auf dem Femi, der Schuhverkäufer, seine Modelle präsentiert, in der Theaterbar predigt der Priester die richtige Einstellung für den Erfolg ... Für die Produktion »Lagos Business Angels« funktionieren Rimini Protokoll den Dritten Ort »Theater« zur »Messe für Biographien und Visionen« um. Fünf Geschäftsleute aus Nigeria treffen auf fünf europäische Akteure aus so unterschiedlichen Lebenswelten wie dem Autohandel, Ölgeschäft, Zierfischimport oder der Korruptionsbekämpfung. Femi ist in einem Slum aufgewachsen und hat sein erstes Geld als Straßenverkäufer in den nie endenden Staus von Lagos verdient, aber wie die anderen Akteure hat er es geschafft, sein eigenes Geschäft auf­ zubauen. Nun nutzen sie alle das in einzelne Bühnen­Nischen unterteilte Theater dazu, weitere Geschäftsaufträge zu akquirieren.
Die »Business Angels« stehen für selbstbewussten Unternehmergeist in einem Land, das nach Jahren der Militärdiktatur und Gewalt immer noch mit Chaos, Armut und Korruption zu kämpfen hat, aber von Goldman Sachs wegen seiner reichhaltigen Ressourcen im Jahre 2050 auf der Rang­ liste der einflussreichsten Nationen noch vor Frankreich und Kanada gesehen wird. Von einer der­ artigen Rolle ist in Lagos selbst noch nicht viel zu spüren. Täglich streben neue Menschen mit der Hoffnung auf Arbeit und eine bessere Zukunft in die Küstenmetropole, das Hyperwachstum bringt die Stadt und ihre Infrastruktur an den Rande des Kollapses, Umwelt­ und Gesundheitsprobleme nehmen stetig zu, immer mehr Fachkräfte versuchen im Ausland ihr Glück. Die »Lagos Business Angels« werben dagegen für einen anderen Weg: Den Aufbau eigener Geschäftsmodelle und einen regeren Handel mit Staaten wie Deutschland.

Was hat dich auf die Idee für »Lagos Business Angels« gebracht?

Zu so einem Projekt gibt es nicht die eine Idee, sondern eher einen Komplex von Fragen und Impulsen. In diesem Fall waren es sogar zwei Projekte. Es gab die Initiative der Filmemacherin Dorothee Wenner, uns zu einem gemein­samen Projekt einzuladen, das sich mit Lagos beschäftigen sollte. Sie kennt Lagos sehr gut, wir waren gemeinsam da und haben streckenweise gemeinsam an der Besetzung für beide Projekte gearbeitet. Ihr Teil des Projekts, der Film »Drama Consult«, kommt im Januar in die Kinos.

Wo war die Schnittmenge der beiden Projekte, und wie bist du an die Darsteller gekommen?

Bei beiden Projekten ging es um die Performance der Geschäftsmöglichkeiten – Motto: »Lass uns zusammenarbeiten«. Wir haben bei unserem ersten Besuch mehrere Tage Geschäftsleute aus allen möglichen Bereichen in Gesprächsrunden getroffen. Wir wollten wissen, wie sie arbeiten, was sie anstreben, und wie konkrete »wirtschaftliche Zusammenarbeit« aussieht, was da läuft und was laufen könnte. »Was wollt Ihr von Europa?« war eine Frage, aber auch, was Europa von ihnen lernen kann.
Wir haben dann eine Gruppe von fünf Leuten zu Proben beziehungsweise Dreharbeiten nach Berlin eingeladen. Dort trafen sie auf fünf weitere Geschäftsleute, die von der europäischen Seite auf das Thema Europäisch­Nigerianische Geschäftsbeziehungen schauen. Zusammen waren sie dann das Ensemble eines Stücks, bei dem es sehr darum ging, einen anderen als den »poornographischen« oder den gigantomanischen Blick auf Lagos zu ermöglichen.

Trotzdem ist der gigantomanische Blick sicherlich nicht abwegig. In einzelnen Stadtvierteln von Lagos leben bis zu 30.000 Menschen auf einem Quadratkilometer – in Berlin sind es nur 3.800. Das Leben dort wird als unmittelbar, chaotisch und kraftzehrend beschrieben. Wie hast du das erlebt?

Sicher ist das eine Stadt, in der man ziemlich umdenken muss, wenn es zum Beispiel darum geht, Termine zu machen. Der Verkehr ist unberechenbar, für eine 20­Minuten­Strecke kann man auch mal drei Stunden brauchen, aber es gibt da nichts, womit man sich nicht arrangieren kann. Wenn der Strom ausfällt, redet man eben im Dunkeln weiter, bis der Generator wieder läuft. Wenn einen Polizisten anhalten und um Wegzoll bitten, haben sie das in unserem Fall immer nett getan und wir haben uns vom Goethe­Institut­Leiter abgeschaut, dass man freundlich »Nein, danke« sagt und weiterfahren kann. »What can you do for me?« ist schon eine Frage, die man von den Leuten gestellt bekommt, die hinter der Passkontrolle checken, ob man alle geforderten Impfungen hat. Die Frage ist ja nicht blöd. Dafür behauptet aber keiner auf dem Bahnsteig, ihm fehlten nur noch zwei Euro für das Zugticket zur kranken Mama. Aber unsere Besuche waren eher »Stichproben«, und es wäre vermessen, zu behaupten, wir würden das Ganze kennengelernt haben. Es gibt da ganze Städte innerhalb der Stadt, wie wenn Städte aus mehreren Jahrhunderten ineinander gewirbelt worden wären, die par­allel wachsen, mit wenigen Verflechtungspunkten.

Die Situation in Lagos ist sicherlich in vielerlei hinsichtlich außergewöhnlich und sicherlich auch manchmal bedrohlich. Hat dir das Gespräch mit den afrikanischen Geschäftsleuten den Blick auf die Orte in dieser Supermetropole und den Umgang mit ihnen im Nachhinein begreifbarer gemacht?

Begriffen haben wir, dass alles, was man so an Bedrohlichem hört, in seinem Ausmaß erstmal Quatsch ist. Die gefährlichste Zeit hatten wir, als wir während des Generalstreiks, den es im Januar gegeben hatte, aus Sicherheitsgründen nicht ohne bewaffneten Schutz durch die Stadt fahren sollten. Wir wollten das nicht, aber wir konnten unsere knappe Zeit auch nicht verstreichen lassen. Letztlich hatten die zwei Polizisten in Zivil aber mehr Angst als wir. Wir haben ihnen dann Geld gegeben, damit sie im Zentrum bleiben und wir weiterziehen konnten. Ok, es gab eine eingeschlagene Scheibe im Kleinbus, aber das war auch, weil wir die Straßensperre in der Ferne trotz Reifenqualm angefahren haben und erst aus der Nähe sahen, dass die unseren Wagen anhalten wollten und Latten in der Hand hatten. Da fährt man dann besser so langsam weiter, dass jeder ausweichen, aber so schnell, dass keiner reingreifen kann. Das war aber eine eher ungewöhnliche Situation.

Du hast den Generalstreik angesprochen. Immer wie- der hört man, dass gerade in Ländern wie Nigeria Missmanagement und Korruption die Landes- sowie Staatspolitik beherrschen. Nigeria hat reichhaltige Ressourcen, unter anderem Öl. Trotzdem zählt Nigeria zu den ärmsten Ländern der Welt, weil die gute Ausgangslage durch Missmanagement immer wieder zerstört wird. Hast du im Umgang mit euren Akteuren die Gründe dafür besser verstehen können oder sind die Typen, die ihr präsentiert, so etwas wie der Beginn eines neuen Nigerias, in dem die Probleme mit genau den Tugenden überwunden werden, die eure Akteure zeigen?

Die Klientel­Strukturen sind bestimmt das größte Problem. Dann gibt es übermächtige Konzerne wie Julius Berger, Monopolisten. Die generelle Wahrnehmung ist: Große Konzerne kontrollieren den Markt komplett und handeln auf staatlicher Ebene ihre Spezialkonditionen aus. Missmanagement ist sicher eine Folge davon. Leute, die selbst etwas aufbauen wollen, kommen nicht an staatliche Auf­ träge, sehr schlecht an Kredite und wenn überhaupt, dann zu zweistelligen Zinssätzen. Das waren oft wieder­ holte Fragen: »Wieso riskieren europäische Banken so viel Asche in diesen merkwürdigen Anlagesektoren, statt sich zu überlegen, wie man viele redliche und bemühte kleine afrikanische Betriebe mit Kleinkrediten oder zusammen­ gefassten Paketen ins Rollen bringt? Wieso sieht niemand, wie motiviert wir hier sind und was für ein Potential es bei uns, den normalen Leuten, gibt, weil wir so viele sind und so viel aufgebaut werden kann? Wieso kapiert ihr nicht, was die Chinesen schon längst umsetzen?«

Die allgemeine Unsicherheit und die Angst vor Betrug spielen sicherlich eine Rolle, das Gefühl, das Terrain und die Gepflogenheiten nicht zu kennen. Seid ihr bei eurer Recherche auf schon funktionierende Projekte deutsch- nigerianischer Zusammenarbeit gestoßen?

Klar gibt es Betrug und so etwas. In Lagos steht praktisch an jeder Hauswand »Dieses Haus wird nicht verkauft«, um Käufer davor zu schützen, auf Scheinverkäufe hereinzufallen. Aber das ist nur die eine Seite. Was wir auch viel hörten und gezeigt bekommen haben, waren kleinere Projekte von Investoren anderer Länder, die offenbar risikofreudiger sind, als solche aus dem deutschsprachigen Raum. Wir haben mit Leuten gesprochen, die bemängeln, dass so wenig produziert und praktisch nichts exportiert wird, weil der Staat seinen Schwerpunkt auf Rohöl­ Exporte im großen Stil gelegt hat und andere Exporte bis­ lang nicht fördert. Es bräuchte mehr Interessensdruck von außen, damit das zu rollen beginnt. Ein anderes Thema ist die Entwicklung lokaler Baumaterialen, für die man weniger importieren muss. Sand, Ziegel und Zement sind enorm teuer und ebenfalls unter der Kontrolle von Klientel-Strukturen.

Sprechen wir nochmal von diesen Klientelstrukturen. Korruption ist oft eines der größten Probleme in ärmeren Ländern. eure Akteure stehen sicherlich in gewisser Weise für das moderne Nigeria und damit auch für eine bessere Zukunft. Trotzdem scheint in eurer Produktion an manchen Stellen durch, dass Korruption zum normalen Umgang in Nigeria gehört. Was hast du diesbezüglich gelernt und wie denkst du selbst darüber?

Also, wir mussten niemanden schmieren und wurden leider auch nicht geschmiert. Aber man begegnet dem Thema permanent. In Nordeuropa begegnet man ihm aber auch, aus Gründen erheblich gesteigerter Finesse deutlich weniger, sag ich mal – nicht, dass man das Thema immer so in die armen Länder abschiebt. Zur Korruption gehören nicht nur Nehmer, sondern auch Geber. Uns ging es aber darum, dass man sich daran nicht dauernd aufhalten kann. Einer unserer Akteure, Uwe Hassenkamp, arbeitet seit Jahren an der Einführung von TÜV­ähnlichen Kontrollstationen für Autos. Denn dass die Autos technische Standards erfüllen müssen, ist in Nigeria genauso Gesetz wie hier. Es gibt aber keine Stationen, wo das auch überprüft werden kann. Was also kann man sonst tun, als sich den Stempel eben irgendwo zu besorgen? Hassenkamp und seine Firma haben viele solcher Projekte, weil die Vorläufe extrem langwierig sind. Es braucht einfach Geduld im Umgang mit der Bürokratie – und die Sicherheit, nicht komplett von einem einzigen Projekt abhängig zu sein. Hassenkamp hat in Nigeria früh gelernt: »Don’t put all your eggs in one basket.«

Zum Thema Hoffnung: Goldman Sachs prophezeit, dass Nigeria im Jahre 2050 auf der Liste der einflussreichsten Volkswirtschaften knapp hinter Japan und Deutschland auf Platz 10 oder 11 liegen wird. Was müsste sich ändern, damit dieser Aufschwung gelingt und denkst du, dass er tatsächlich gelingen kann?

Die Frage ist, was aufschwingt und was liegen bleibt. Der extrem hitzige, kurze Generalstreik im Januar betraf Preiserhöhungen für fossile Brennstoffe, ohne die in Nigeria nichts geht – auch keine Lüftung und kein Strom. Die Nigerianer haben die künstlich niedrig gehaltenen Preise für das auf dem Weltmarkt angekaufte Benzin immer als die einzige Art gesehen, auf die sie am eigentlichen Rohstoffreichtum des Landes partizipieren. Denn symbolisch gesehen ist das ja »ihr« Öl, das da zurückgekauft wird. Deshalb hätten sie es gern weiter zum halben Einkaufspreis gehabt. Nigeria ist überhaupt sehr reich an Rohstoffen und neben der Partizipation der Bevölkerung ist das andere große Thema, zu verhindern, dass weiter ganze Landesteile verseucht wer­ den beim Abbau. Wenn das, was Norwegen zu einem Staat ohne Schulden und mit enormem Einnahmen macht, über deren Verteilung die Demokratie da einigermaßen mitreden kann, auch in Nigeria möglich wäre, das wäre schon enorm. So ein Großprojekt wie Eko­-Atlantic, wo in die Lagune hinein Wohn­ und Arbeitsraum für 250.000 Menschen aufgeschüttet wird und das alles komplett von außen finanziert und gesteuert, spricht leider eine komplett andere Sprache. – Übrigens, Sonnenenergie: Fehlanzeige bislang, im großen Ganzen...

Sprechen wir vom Theater: Was macht den Dritten Ort »Theater« für dich aus, und wie hat sich seine Wahrnehmung aus deiner Sicht im Laufe der Zeit verändert?

Theater birgt die Chance, dass man Leuten begegnet, Akteuren, von denen man sonst nie etwas mitbekommen hätte. Und was man von ihnen erfährt und in welche Konstellationen sie da gestellt sind, das kann dein ganzes Bild von etwas wie Lagos und Nigeria komplett verändern und bereichern. Nur waren uns zum Beispiel bei »Lagos Business Angels« die Leute und was sie zu sagen hatten, viel zu schade, als dass wir mit ihnen ein Stück auf der Bühne erarbeiten wollten, in dem dann jeder ein paar Minuten zu seinem Recht kommt. Dritter Ort hieß für uns: Wir wollen, dass man einzelnen viel direkter und aufmerksamer begegnen kann, ihnen eine Strecke lang zuhören kann, ohne dass alle ihre Äußerungen permanent im Gegengewicht zu dem zugeschliffen werden müssen, was die an­ deren zu sagen haben. Der Dritte Ort hat viele Winkel, in denen parallel verhandelt und kommuniziert wird. Die Besucher dieser Winkel kommen auch in anderen Winkeln vorbei, aber keiner an allen. Dadurch entstehen so leichte Wirbel­Bewegungen, ein nervöses Feld der Aufmerksamkeit und der Hinweise, denen man nachgehen müsste. In einem Theaterhaus gibt es dafür ganz verschiedene, eigen­ artige Räume und Perspektiven, wenn man die Besucher nur nicht immer gleich in die roten Sessel setzt.

In vielerlei Weise ist das Theater auch in zeitgenössischen Inszenierungen ein Ort, an dem passiv zugehört wird und höchstens die Kantine oder das Foyer Platz für Austausch bietet. Ihr inszeniert den Dritten Ort Theater aber bewusst als Aktionsraum. Was sind dabei eure Leitprinzipien und was war das Besondere bei den »Lagos Business Angels«?

Wir hatten mal eine Daimler­Aktionärs­Hauptversammlung zu unserer Aufführung erklärt. Dabei ging es darum, dass die Zuschauer für einen Tag Aktionäre sein mussten, sonst hätten sie nicht reingekonnt. Unser Stück war ein Wahrnehmungsparasit im Fell der eigentlichen Veranstaltung und hatte denselben Titel, »Hauptversammlung«. Daran muss ich bei dem Begriff »Dritter Ort« auch denken. Unsere Zuschauer, also wir inklusive, sahen aus, wie die anderen 6000 Büffet-Touristen, unser Stück war weitgehend nicht sichtbar. Trotzdem sagte der Aufsichtsratsvorsitzende: »Meine Damen und Herren, dies ist kein Schauspiel, dies ist kein Theater«, was albern und ein Schuss ins eigene Knie war. Wir wollten aber, dass unsere Gäste nicht nur 12 Stunden lang das Geschehen verfolgen, sondern auch ins Gespräch kommen mit Leuten aus den unterschiedlichen Szenen – Anlageberatern, Aktionären, Kritikern, Aktivisten. Das Wirtstier wollte uns keinen Platz für diese stündlichen Rendezvous zuteilen, sonst hätte es unsere Aufführung ja indirekt akzeptiert. Aber es sagte, wenn wir uns dort verabreden, wo die LKWs ausgestellt werden, einen Stock tiefer, dann würden wir nicht verscheucht. Da gab’s dann stündlich mehrere Grüppchen, die intensive Gespräche geführt haben über das, was da abgeht.

So gesehen war bei eurem Nigeria-Stück das Theater das Wirtstier...
Ja, und da ging es auch darum, die Einheitlichkeit eines zentralperspektivischen Theaterraums zu brechen – verschiedene Pfade, verschiedene Wahrheiten. Die kleinen Zuschauergruppen sind von »Messestand« zu »Messe­ stand« gezogen, haben 12 Minuten mit jeweils nur einem Geschäftsfeld und Akteur zu tun bekommen und sind dann weitergezogen zum nächsten »Stand«. – Überhaupt war die »Messe« ein Leitbegriff. Sowohl die Ansammlung aller möglichen Leute, die handeln, als auch die kirchliche Aussendung. Der Messeabend endet mit einem eher traditionellen Teil auf der Bühne und der Priester betet da auch für Europa – dass es ein besserer Ort werden möge.

Habt ihr gemerkt, dass dieser Messeort auf die Akteure der einzelnen Gruppen unterschiedlich gewirkt hat, dass er von ihnen unterschiedlich erschlossen und interpretiert wurde?

Alle zehn Akteure waren mehr an Kontakten interessiert, die sie geschäftlich weiterbringen würden, als an Theaterapplaus, und die Aufführung ist so organisiert, dass, auch wenn gejubelt wird, das Licht früh reinblendet. Die Darsteller kommen dann von der Bühne runter in den Saal, zurück an ihre »Stände«. Wir hatten genauso viel Freude an dem, was sich nach den eigentlichen Aufführungen abspielte. Das Theater blieb nochmal so lange voll, wie die eigentliche Aufführung gedauert hatte. Es gab auch nigerianische Geschäftsleute, die, um ihre Bekannten auf der Bühne zu sehen, gleich für ein paar Tage nach Berlin kamen und ihre Visitenkarten verteilt haben. Ich hab einen Mann kennengelernt, der mehr als dreißig Geschwister hat und in einem Dorf aufwuchs, wo man zwei Stunden bis zum nächsten Brunnen laufen musste. Sein Lebensthema sind Wasserversorgung und Wasseraufbereitung. Er ist auch Priester einer größeren Gemeinde in Bremen. Und wie der Priester, der bei uns dabei ist, versteht er seine Kirche als Plattform für das Knüpfen verlässlicher Geschäftsbeziehungen, die eine andere Basis haben, als Zahlen und das Imagetheater der Geschäftsleute. Das ist aber auch eine Machtbasis...

Wie lief die Kommunikation unter den Akteuren, gab es so etwas wie eine Öffnung, einen gemeinsamen Lernprozess?

Auf den kann man sich verlassen bei sechs Wochen gemeinsamer Zeit. Das eigene und das Geschäft der anderen waren ständig das zentrale Thema. Bei vielem, was da passiert ist, haben wir gedacht: Die Aufführung ist schon im vollen Gange.

Und sind aus der Produktion gemeinsame Geschäftsmodelle hervorgegangen oder wurden Modelle auf der Basis der Erfahrungen eventuell modifiziert?

Das braucht länger als die paar Monate, die das Projekt nun läuft. Ein paar Deals gab’s aber schon – dass der eine dem anderen beim Besorgen von irgendwas hilft, Kontakte vermittelt und so weiter. Das sind vielleicht kleine Anfänge. Vertrauen und gute Erfahrungen miteinander lassen sich im Theater schneller machen, als in der Geschäftswelt. Aber es gab sehr schnell Ideen zwischen einzelnen, weshalb sie in Verbindung bleiben sollten. Ich hab gerade auch einen Anruf bekommen, ob ich gebrauchte Motorboote in Griechenland auftreiben könne, wo meine Partnerin doch da herkommt und die Griechen doch gerade verkaufen wollen sollten.

Am Anfang hast du schon von der Ablehnung des »poornographischen Blicks« auf Lagos gesprochen. Das war auch das erste, was mir auffiel: dass Ihr anscheinend bewusst mit Klischees brecht, unter anderem mit der (europäischen) Sichtweise, dass alles in Afrika tragisch und kaputt ist. Ihr zeigt findige Geschäftsleute, die immer positiv und agil sind, und von denen einer an einer Stelle sogar das Publikum fragt, warum es denn einfach nur passiv bliebe. Was ist der Gedanke dahinter, und wie hat sich euer Blick darauf während der Inszenierung verändert?

Ein wichtiger Gedanke ließe sich umschreiben mit: Hingehen, Zuhören, Vertrauen und Interesse schenken und die Leute für sich selbst sprechen lassen. An dem, was sie sagen, arbeiten wir viel und intensiv, aber eben auf Basis ihres Anliegens. Man spürt in Lagos viel mehr als in Berlin die Aussicht auf große Möglichkeiten und Leute, die daran arbeiten, dabei weiterzukommen. Jede Bekanntschaft birgt Möglichkeiten und man hat nur ein paar Minuten, um sie nicht komplett verloren gehen zu lassen. Mit dieser Haltung kommt in Berlin oder Brüssel keiner ins Theater. Aber genau das hat uns als Theatermacher interessiert – eine Interpretation des Stücks ist, sich an wenigstens einen der »Charaktere« ranzuschmeißen und mehr zu erfahren und sich selbst auch zu »outen«, statt zuhause im Stübchen kurz nochmal über Bedeutungen nachzudenken. Auf der Bühne berühren einen diese Leute, wenn sie erzählen, aber dann sagt dieses Berührende eben so einen Kernsatz, den man ja auch auf das Verhältnis zwischen Westafrika und Europa münzen kann: »Wieso sitzt ihr da und schaut zu, wieso glaubt ihr, dass die guten Gelegenheiten, weiterzukommen, jetzt gerade Pause haben?« Vermutlich waren nicht viele potentielle Investoren für die Baufinanzierungsprojekte des Real­-Estate­-Developers im Publikum. Der Autoexporteur hat aber immerhin nach den Berliner Aufführungen eine ganze Reihe von Anrufen bekommen, da stünde noch ein alter Wagen rum, den könne er abholen. Und wenn er kommt, dann geht das Stück grad weiter.

Die afrikanischen Geschäftsleute scheinen überhaupt sehr interessiert am Ankauf gebrauchter Dinge aus Deutschland zu sein. Kannst du uns Hintergründe dazu geben und was wären typische Bausteine der Geschäftsmodelle?

Also ... Ein gelernter Automechaniker, wie unser Ak­teur, kauft auf dem deutschen Schrott­ aber auch Gebrauchtwagenmarkt. Er weiß, was in Nigeria und den angrenzenden Ländern gekauft wird. Er sammelt und lagert. Wenn genug für einen großen Container beisammen ist, packt er ihn auf atemberaubende Weise voll, da geht am Ende kein Bleistift mehr rein, verschickt ihn nach Nigeria und wenn der Container dort durch den Zoll gekommen ist, steigt er in den nächsten Flieger und verkauft die Teile innerhalb weniger Tage dort komplett auf einem dieser Spezialmärkte. Damit die Reise sich doppelt lohnt, baut er dort auch eine Sammelstelle auf für absoluten Schrott, den nach Europa zu verschicken sich auch wieder rechnet. Es gibt Leute hier, die auf Gesuche reagieren, und ganz spezielle Maschinen kaufen. Gebrauchte Maschinen aus Westeuropa haben einen besseren Ruf als neuwertige Äquivalente aus China. Wir kennen aber auch jemanden, der im Ölgeschäft unterwegs ist, nebenbei aber Container mit Sperrmüll anfüllt. Im Prinzip gilt: Fast alles, was es hier gibt, kann man in Nigeria auch brauchen, und dort gibt es für fast alles enorm flexibel und schnell funktionierende Märkte. Apropos Boote und Griechenland – ich hab dann mal ein bisschen recherchiert und bin darauf gestoßen, dass die EU bei einem guten Zwei­Mann­Fischkutter 100.000 Euro zahlt. Dafür, dass er zersägt und unbrauchbar gemacht wird. Wegen der Überfischung. In Nigeria könnte man den bestimmt wieder zusammenflicken.

Einer der Akteure ist Börsen-Analyst. Gibt es deutliche unterschiede, wie hier und in Nigeria der Börsenhandel funktioniert? Hintergrund der Frage ist sicherlich ein naiver-uneingeweihter Blick, aber wenn ich auf das alles schaue, was das Leben in Lagos und sicherlich auch in anderen Städten Nigerias umfasst, frage ich mich, ob so etwas wie Börsenhandel zu dem restlichen Leben passt...

Klar passt das. Kapital ist da. Die Regeln sind etwas anders als in Europa – zum Beispiel dürfen Aktien pro Tag nur um 5 % steigen oder fallen. Und selbst Konzerne mit fallenden Kursen zahlen noch Dividenden aus. Dass eine Firma Gewinne ausweist und dennoch nichts auszahlt wäre undenkbar, sagt Jude Fejokwu, unser Akteur. Und er wirbt sehr um mehr Beteiligung, zum Beispiel damit, dass es keine Besteuerung von Anlagegewinnen geben sollte. Er selbst gehört zum wachsenden aber noch sehr jungen Sektor erklärtermaßen unabhängiger Analysten, die vor allem für ausländische Investoren Analysen zu Firmen am Markt schreiben und versuchen, ihnen klarzumachen, dass sie kommen können.

Wenn man das so vereinfacht auf den Punkt bringen kann: Was wären die grundsätzlichen unterschiede im Geschäftsgebaren der Afrikaner und der Deutschen?

Danach sucht man irgendwie fast automatisch. Wir waren auf eine enorme Menge charismatischer, offensiv werben­ der Geschäftsleute gefasst gewesen, die einem Schnürsenkel als Klebstreifen verkaufen können. Das Klischee. Aber es ist eher logisch als typisch, möglichst mehrere Projekte gleichzeitig zu fahren, wenn die Erfolgschancen nicht klar zu sehen sind. Und der ganzen Partnerschafts­bildungs­rhetorik, die die Leute aus Nigeria teilweise stärker drauf haben als die Leute aus Deutschland und Österreich, stand die Sehnsucht nach Nägeln mit Köpfen gegenüber.

Wir haben viel über die afrikanischen Akteure geredet. Wie haben sich die Vorstellungen und Verhaltensweisen der Deutschen im Laufe der Arbeit verändert? War das einer der Punkte, die Teil der Inszenierung waren: Dass es eine Annäherung und einen Lernprozess gibt?

Klar, darum geht es permanent. Das ist kein Theater der Quintessenz, sondern der Diversität. Man hat einander wochenlang zugehört, beobachtet, sich ausgetauscht und hat versucht, möglichst viel von dieser Vielfalt in eine Theaterstruktur zu überführen, zu der das Nachfragen, Zu­ hören, aber eben auch der Austausch von Visitenkarten gehört. Da geht es dauernd und taktil darum, welche Rollen man selbst spielt und wie sie ankommen. Markt ist Schau­ spiel. Ich finde, dass da die große Aufgabe des Theaters ist, Sehgewohnheiten aufzubrechen und die auf Klischees reduzierten Erzählungen der Medien zu unterlaufen. Theater kann eine Messe ganz konkreter Erfahrungen sein, bei der man umschaltet vom Besucher zum Begegner. Erkenntnisse sind dabei Zwischenstufen, die bei der nächsten Begegnung wieder ins Rutschen kommen können.

Daniel, ich danke dir sehr für dieses Gespräch.


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