Der pulsierende Seelenhort

"Blaiberg und Sweetheart19" im HAU1 - die Theater-Rechercheure von Rimini-Protokoll untersuchen das Menschenherz

Von Ulrich Seidler

28.10.2006 / Berliner Zeitung

Beruhigt euch mal ein bisschen, liebe Romantiker. Das menschliche Herz hält eine Menge aus. Man kann es zum Beispiel auf fünf Grad hinunterkühlen, ohne dass es entzwei geht. Ein Herz, das einem Hirntoten entnommen wurde, hält sich bei dieser Kühlschranktemperatur sechs Stunden frisch und kann in einen anderen Menschen eingebaut werden. Wenn es dann angeschlossen ist und langsam wieder Blut durchgeleitet wird, beginnt es wie von selbst das zu tun, was zu tun ist: schlagen, also Blut pumpen.

Als Heidi Mettler aus der Narkose erwachte, griff sie erst einmal an ihre linke Seite: keine Kabel mehr, keine Schläuche, keine Batterie. Das war vor sechs Jahren, und jetzt tourt sie mit der Theatergruppe Rimini-Protokoll durch die Lande. Derzeit erzählt die Schweizerin - etwas kurzatmig und mit langsamen Bewegungen - ihre Geschichte im HAU. Sie ist zum ersten Mal in ihrem Leben geflogen. Ihr Herz mindestens einmal mehr, als es mit dem Hubschrauber antransportiert wurde. Und vorher - wer weiß.

Wie alle Rimini-Darsteller muss Frau Mettler ihre Rolle nicht erst erkunden, denn es handelt sich um ihre eigene Biografie. Das Regieteam Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel sieht seine Aufgabe darin, solche "Experten des Alltags" erkenntnisfördernd miteinander zu kombinieren. Bei "Blaiberg und Sweetheart19" wird der Herztransplantierten eine ehemalige Kantonsrätin mit Organspendeausweis an die Seite gestellt: Crista D. Weisshaupt. Ihr Sohn hat sich vor einen Zug geworfen. "Ich sterbe bekifft. Ich weiß, es ist richtig so", stand im Abschiedsbrief. Seine Organe konnte man zwar nicht verwenden. Aber Frau Weisshaupt ist sich sicher, dass sie zugestimmt hätte. Des weiteren treten auf: Renate Behr, eine Kardiotechnikerin, die im Stadtspital Triemli die Herz-Lungen-Maschine bedient, Hansueli Bertschinger, emeritierter Professor für Tiermedizin, der ein Schweineherz vorführt, aber auch über die Brunst Auskunft gibt. Womit nur eine Brücke geschlagen ist - hinüber zum romantischeren Thema, das zu dem Begriff "Herzschmerz" gehört. Und für das zwei Eheanbahner zuständig sind: Nick Ganz, der so genannte "Speed-Flirting"-Abende veranstaltet, und Jeanne Epple, die mit Kontakten zu heiratswilligen Russinnen handelt.

Es ist erst einmal nicht viel mehr als ein Kalauer, der zweierlei Sorten von Herzensangelegenheiten verknüpft, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Damit lässt sich schön wortspielen, wie das Programmheft zeigt: "Wie findet sich das geeignete Herz? Wie lassen sich Abstoßungsreaktionen vermeiden?" Aber im Laufe des zweistündigen, ruhigen, inhaltsreichen Abends verschwimmt die Grenze. Man erfährt jede Menge interessante Details, bei denen jedoch immer weniger klar wird, ob sie aus der technischen oder der romantischen Ecke stammen. Zum Beispiel, dass ein Eber beim Koitus mehrere Deziliter Samenflüssigkeit abgibt. Oder dass Philip Blaiberg der erste lebende Mensch war, der 1967, nach der ersten Herztransplantation, sein Herz in der Hand hielt. Oder dass in der Schweiz jeder zweite Single im Internet auf Partnersuche geht. Was die Rimini-Rechercheure leider auf die Idee mit dem virtuellen Raum brachte, in dem sich die Darsteller treffen, um ein zweites, live ins Theater übertragenes Leben zu führen. Das hört sich zwar sehr wirklichkeitstheaterwichtig an, aber bedeutet letztlich nur, dass der Zuschauer den Darstellern beim Computerspielen zugucken muss.

Der etwas unterkühlte Theater-Essay weckt Neugier und schlägt Denkfunken. Und er sorgt am Ende, wie im richtigen Gefühle-Theater, für einen leichten Druck auf der Zuschauerbrust. Nämlich dann, wenn die Russinnenvermittlerin das frische Schweineherz nimmt - das dem unseren sehr ähnlich sein soll, wie Professor Bertschinger zuvor versicherte - und es mit einem scharfen kleinen Messer würfelt, um es in die Pfanne zu hauen. "So kocht man Cherz in Russland!"


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