Der nächste Flug geht bestimmt

Die Untersuchung von Trümmerteilen: Das Theaterkollektiv Rimini-Protokoll zeigt im HAU 2, wie aus Arbeitslosen Utopisten werden. Was erzählt wird, ist real, aber wie es erzählt wird, lässt das Reale wie Fiktion erscheinen

Von Christian Berndt

27.10.2004 / taz

Plötzlich, eines Morgens, funktionierte die Kennkarte nicht mehr. Er glaubte zunächst an eine Fehlfunktion, aber ein Kollege ahnte es schon: "Jean, vielleicht bist du deaktiviert?" So war es denn auch, durch Tastendruck abgeschaltet wie eine Kaffeemaschine in die Arbeitslosigkeit entlassen, wie 12.000 andere Mitarbeiter auch. Die belgische Fluggesellschaft Sabena, der Stolz des einstigen belgischen Kolonialreiches und Ausdruck von Weltbedeutung und Globalisierung, machte 2001 bankrott.


Was passiert, wenn von einem Tag auf den anderen die gesamte Existenz eines Menschen in Frage gestellt ist, zeigt die neueste Produktion des Theaterkollektivs Rimini-Protokoll. Nach Aufführungen in Brüssel und dem Festival "Theaterformen" Braunschweig/Hannover ist "Sabenation. Go home & follow the news" jetzt im HAU 2 zu sehen. Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel unterziehen in ihrer neuen Versuchsanordnung den Zusammenbruch der Fluggesellschaft Sabena einem "R-Check", eigentlich der Fachausdruck für die Untersuchung von Trümmerteilen nach einem Flugzeugabsturz. Doch die Trümmerteile sind in diesem Fall sieben gefeuerte Mitarbeiter von Sabena, die das Regietrio für diese Produktion gecastet hat.


Jean, der früher die Flugzeuge von der Rollbahn auf den Taxiway winkte, wollte nach der Entlassung eigentlich Gurken verkaufen, handelt jetzt aber mit Antidepressiva. Deborah hat nach 153 erfolglosen Bewerbungen eine Beratungsstelle für Arbeitslose aufgemacht, und Kris ist, seit er seiner Frau zu Hause ziemlich auf die Nerven geht, viel mit den Hunden unterwegs. Wie in allen Inszenierungen von Rimini-Protokoll, die in ihren Produktionen reale Lebens- und Arbeitsverhältnisse vom Gerichtssaal über den Bundestag bis zum Seniorenheim ausloten, sind die sieben ehemaligen Fluglinienmitarbeiter keine Schauspieler, sondern echt. Was sie erzählen, ist real, aber sie spielen so, als sei das Reale Fiktion.


In einer Montage aus Videoeinspielungen und übereinander gesprochenen Texten führen sie vor, wie Menschen mit Identitätskrisen umzugehen versuchen. Wenn ein Mitarbeiter erzählt, dass er immer noch in der Sabena Pingpong-Mannschaft spielt, wird tragisch deutlich, wie viel ernster als die Konzernleitung die Mitarbeiter das Gerede von der großen Firmenfamilie genommen haben. "I love my company", sang man auf den Mitarbeiter-Motivationsseminaren - und die Angestellten glaubten tatsächlich daran. Ein Mitarbeiter hat in seinem Schlafzimmer immer noch die Poster sämtlicher Sabena-Flugzeuge hängen, und Jean schnitzt aus Gurken Flugzeuge. Dazu werfen sie sich in hospitalistischen Endlosschleifen Tischtennisbälle zu - eine sogar mit Ballmaschine. Das Firmenhobby ist ihnen noch geblieben, aber ohne Firma macht das Hobby auch keinen rechten Sinn mehr.


Was nach zynischer Darstellung skurriler Verlierer klingt, ist alles andere als satirische Bloßstellung. Völlig ernsthaft schildern die Sabena-Mitarbeiter, was das Fliegen ihnen bedeutet hat und wie sie nach der Vertreibung aus dem Familienschoß der Firma wieder Fuß fassen müssen. Wenn die ganze Gruppe am Schluss einen Flug simuliert, finden sie sich aus dem scheinbar chaotischen Durcheinander zu einer gemeinsamen Choreografie zusammen. Aus der Bühne wird mit Lichtstreifen eine Flugbahn, und um die Utopie vollständig zu machen, lässt man zu sphärischer Musik ein Modellflugzeug starten. Hier wird die Realität endgültig zur Farce, die Utopie aber zum schönen Traum. Das ist politisches Theater auf eine sinnliche Art, wie es im Moment kein zweites gibt.


CHRISTIAN BERNDT


Heute bis Samstag, 30. Oktober,

jeweils 20 Uhr, HAU 2, Hallesches

Ufer 32, Kreuzberg


taz Berlin lokal Nr. 7498 vom 27.10.2004, Seite 25, 125 Kommentar CHRISTIAN BERNDT, Rezension


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