Den Fetisch knistern hören

»Das Kapital« von Karl Marx als Hörspiel

Von Anke Wülpern

22.04.2008 / Junge Welt / Feuilleton / Seite 12

Sie machen Theater, weil sie das Theater nicht mögen, »viel zu abgehoben, arrogant und selbstreferentiell«, sagt Helgard Haug in einem Interview. Helgard Haug bildet zusammen mit ihren Kollegen Daniel Wetzel und Stefan Kaegi das Künstler-Kollektiv Rimini Protokoll, das als Begründer eines »neuen Reality Trends« gilt und das Dokumentartheater neu definiert. Die drei in Berlin lebenden Mittdreißiger, die wohl während ihres Studiums der angewandten Theaterwissenschaft in Gießen die sie verbindende Abneigung für den Gegenstand ihres Studiums zu entwickeln lernten, produzieren vermutlich auch aus diesem Grund nicht nur Theater, sondern jährlich mindestens ein Hörspiel.

Ihr aktuelles Stück, »Karl Marx. Das Kapital. Erster Band«, wurde nun mit dem diesjährigen Hörspielpreis der Kriegsblinden geehrt. Obwohl undotiert, gilt er als die renommierteste Auszeichnung für Hörspielautoren und wird gemeinsam vom Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V. und der Filmstiftung NRW getragen.

Ein skurril anmutendes Phänomen, daß der Bund der Kriegsblinden immer die mit Abstand coolsten Stücke auswählt, die mit der soften Hörbuchlandschaft der »Starken Stimmen« (Brigitte) oder der »Bibliothek der Erzähler« (SZ) nur mehr das Medium gemein haben. Eingängliches und Geschmeidiges, mag es auch noch so gut produziert sein, hat vor der Jury keinen Bestand. Ein Blick in die Vereinszeitschrift Der Kriegsblinde läßt Beschaulicheres vermuten. Mit Christoph Schlingensief, der die Auszeichnung 2002 erhielt, läßt sich das Blatt jedenfalls nur schwer zusammendenken. Auch FM Einheit, Schorsch Kamerun und Texte von Elfriede Jelinek (in der Regie von Karl Bruckmaier), Ror Wolf (Regie Heinz Hostning) oder Andreas Ammer wurden bereits geehrt.

Nun also ein Werk von Karl Marx. »Das Kapital«. Den 1867 erschienenen, 750 Seiten starken Text zur »Kritik der politischen Ökonomie« als Hörbuch zu inszenieren, ist, wie es gleich zu Beginn des Stücks heißt, eine »total bescheuerte Idee. In den 50 Minuten, die zur Verfügung stehen, kann man das Buch gerade mal durchblättern. Also alle acht Sekunden umblättern. Fertig.« Einen weiteren Anlauf unternimmt Christian Spremberg, auch Akteur des Stücks, blinder Call-Center-Agent und Plattensammler, der aus seiner Blindenschriftausgabe liest. »Allein der erste Band des Kapitals besteht aus dreizehn solcher Schwarten. Die kommen in handlichen Koffern verpackt – da steht der Flur schnell voll. Beim Gesamtwerk wird das Regal gleich mitgeliefert.«

Haug und Wetzel geht es also nicht um Lesung oder Inszenierung des Textes, vielmehr um den Umgang mit dem Werk, das in den Kanon derjenigen Bücher gehört, die jeder kennt und niemand gelesen hat.

Aber wer spricht eigentlich? Die Autoren suchten für das gleichnamige Theaterstück, das bereits letztes Jahr mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, Darsteller. Als »neue Realisten« brauchen sie keine Schauspieler. Sie veranstalten Castings und führen Auswahlgespräche mit Interessierten. Aus dem umfangreichen dokumentarischen Material, das bei diesen Gesprächen oder bei Proben, hinter der Bühne oder beim Soundcheck entstand, collagierten sie in einer aufwendigen Produktion, die sich über ein Jahr hinzog, dieses Hörspiel. Es blieben acht Akteure, die sich kennenlernen und sich über ihre Verbindung zu dem Text, Geld, Kapital oder Ware austauschen. Der eine wollte das Buch »einfach nur haben. Nein, nicht haben. Ich wollte ihn einfach nur kaufen, weil er eben dazu gehört«, andere haben Marx gründlichst studiert.

Da ist Jochen Noth, ehemaliger Kommunist und heutiger Anlageberater, der das Kapital von Hamburger Millionären verjubelte und der, wie am Ende festgestellt wird, Kapital in Geld und Geld wieder in Kapital verwandelt hat. Oder Lolette, eine Prostituierte, deren Vater viele Jahre Marxismus-Leninismus in Potsdam lehrte und die jetzt ihren Körper als Kapital auf dem Markt verwertet und über Strumpf als Fetisch zu berichten weiß. Ein anderer, Statistiker und Wirtschaftstheoretiker, der seit Jahren akribisch an einer Neuausgabe arbeitet, der eigentliche Marx-Experte, der textsicher jede Fußnote zu zitieren weiß und dem niemand Geld für Kapital vormacht.

Mal ironisch, mal nostalgisch an das Jahr 1968 erinnernd, skurril oder ernst zeugen die acht Lebensgeschichten in ihrer Ausschnitthaftigkeit von der Verbindung von Theorie und Praxis. So entsteht ein ganz uninszeniert wirkendes Stück, ein O-Ton-Hörspiel, dessen genaue und akribische Inszenierung Realität unter Laborbedingungen darstellt. Und Spaß macht. Als strukturgebendes Element nutzen die Autoren die Kapitelüberschriften des Werks. Insofern diese bisweilen auch das Thema vorgeben, setzt sich das Stück dann doch direkt mit dem Text auseinander: »Kapitel 8: Der Arbeitstag. (Lolette:) Solange mein Handy an ist, arbeite ich. Also so von morgens um neun bis abends um neun.« Beim Thema »ungeheure Warenansammlung« wünscht Lolette sich aus der großen Plattensammlung von Herrn Spremberg (die ihn »viel Kapital, nein Geld, gekostet hat«) einen Schlager: »Fahren auch Sie den neuen Taunus!«. Herr Spremberg läßt »den Fetisch knistern«. Warenhäuser müßten klar und übersichtlich gestaltet sein. Nicht, daß man durch die Jackenabteilung muß, wenn man sich eine Hose kaufen will. Da ist man sich mit Marx vermeintlich einig.

Gerade aus der Dichte dieser Zitatmontage, die Witz, Anekdoten, Schlager, Text und Mißverständnisse nebeneinander, über- und durcheinander stellt, entsteht hier und da auch Textverständnis. Mit Schnitt-, Chor-, Echo- und Loop-Spielereien hätten die Autoren sparsamer umgehen können. Das Überangebot wirkt manchmal »abgehoben, arrogant und selbstreferentiell«. Vermutlich würde das vermieden, wenn sie auch das Hörspiel nicht mögen würden.

 

Nach der Arbeit: Handy aus, Hörbuch rein


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Karl Marx: Das Kapital, Erster Band (Hörspiel)