Das große Wir

Theater und Kapital

Von Franz Wille

01.06.2009 / Theater heute

Das große Wir
Theater und Kapital: Rimini Protokoll schleicht sich in die Hauptversammlung der Daimler AG, und Elfriede Jelineks «Kontrakte des Kaufmanns» gehen Nicolas Stemann auf den Seitenzähler. Uraufführungen und One-day-stands in Berlin und Köln

Es gibt sie noch, die schönen Stunden. Wenn man als vielbeschäftigter Vorstand oder Aufsichtsrat eines Weltunternehmens, eingezwängt in die Zeitfenster seines Terminkalenders, einmal richtig durchatmen darf. 12 Stunden am Stück nur zuhören, träumen und sinnieren. Kein einziger Redebeitrag wird verlangt, nicht mal Aktenstudium, kein Referent kommt wichtig, kein Handy stört. Sprechen dürfen nur der Aufsichtsratsvorsitzende, der Vorstandsvorsitzende und der Finanzmensch. Alle anderen sitzen bei der Hauptversammlung ihres Unternehmens zwar dabei, sonst gilt sie nicht, aber außer einem ernsten Gesicht wird nichts Wesentliches verlangt. Der Kapitalismus vollzieht sich reibungslos nach seinen innersten Gesetzen. Seinesgleichen geschieht, hätte Musil gesagt.
Als Theaterliebhaber hätte man jetzt gut 12 Stunden Muße, über das Verhältnis von Figur und Rolle nachzudenken. Man kann es genauso gut bleibenlassen. Und als Theaterdirektor darf man endlich einmal den Kritiker mit der Bemerkung begrüßen, die nächsten paar Stunden werden sterbenslangweilig. Und als Kritiker darf man endlich entspannt wegdämmern, ohne konzentrierte Wachheit suggerieren zu sollen. Figur und Rolle eben. Aber bevor ein lockeres Säuseln um sich greift, fährt der schnauzbärtig schwäbelnde Aufsichtsratschef mit einem realitätsprinzipiellen Donnerwort dazwischen. Dies sei kein Theaterstück, sagt er plötzlich, als müsse er den Gottseibeiuns bändigen, und bittet deshalb gleich im nächsten Satz um Anstand bei den Zwischenfragen. Eine seiner Lieblingsfloskeln wird den Gedanken an diesem Tag noch oft vertiefen: «Fakt ist.»

ICC Enterprise
Die Hauptversammlung der Daimler AG ist eine imposante Veranstaltung. Im Internationalen Congress Centrum zu Berlin, einem asbestsanierten Beton-Raumschiff aus den späten siebziger Jahren, versammeln sich in den drei Hauptsälen – Saal 1 hat allein 6.000 Plätze – die Anteilseigner der Marke mit dem Stern. Aus allen Mercedes-Provinzen sind sie aufgebrochen, dies ist ihr Tag. Heute kommt es zwar nicht auf jede Stimme an, aber wer eine Stimme hat, darf hier sprechen. Und alle müssen ihnen zuhören, jeder Vorstand, jeder Fondsmanager, jeder Einzelaktionär. Bis in den letzten Winkel von ICC Enterprise wird ihre Stimme übertragen, noch auf den abgelegensten Toiletten schallt es aus Lautsprechern. 180 Hostessen in blauen Hemden und weißen Pullundern umsorgen das Heerlager, in allen Foyers dampfen die Catering-Feuerstellen, es gibt Pasta mit einer seltsam alarmroten Sauce oder nachhaltig riechende Würstchensuppe. Und wer eine Sekunde zu lange unschlüssig herumsteht, hat sofort einen weißen Pullunder mit selbstleuchtendem Dienstleistungslächeln vor sich, der charmant nach der Saalkarte fragt.

Pro-aktives Management
Zur Zeit ist Krise. Noch vor einem Jahr konnte der Daimler-Vorstand von Milliardengewinnen berichten und ein gigantisches Aktien-Rückkaufprogramm beschließen. Inzwischen ist der Kurs auf ein Drittel geschrumpft, die Vorstandsgehälter haben sich halbiert, und der Vorsitzende muss das Undenkbare aussprechen: Im heiligen Gral der deutschen Ingenieursseele drohen Entlassungen. Der Rückkauf in fallenden Kursen hat vier Milliarden Eigenkapital vernichtet, und man ist einem arabischen Staatsfonds auf Knien dankbar, dass er für den Spottpreis von zwei Milliarden zehn Prozent der Firma übernommen hat. Doch Saal 1 steckt solche Selbstwertschwankungen erstaunlich locker weg. Wahrscheinlich gehen sie einfach zu schnell und überfordern die Wahrnehmung. Ein Daimler ist schließlich keine Achterbahn. Der oberste Aufsichtsrat, der selbst im letzten Jahr noch für vier Millionen eigene Aktien gekauft hat, hält das tapfer noch immer für ein gutes Investment, «nur nicht gerade jetzt».
Sprachlich ist der Mann ohnehin hinreißend. In seiner Rede wirft Jürgen Bischoff erst Dubai und Abu Dhabi durcheinander – diese Araber mit den tiefen Taschen eben – , und die notorischen Business-Englisch-Anteile in seinen Anworten purzeln so drollig aus seinem Schwabenspeak, dass man nie weiß, wo die Geschäftswelt aufhört und die Selbstparodie anfängt. Der Vorstandsvorsitzende Zetsche hat auch ein neues Lieblingswort: «pro-aktives Krisenmanagement». Soll bedeuten, dass alles, was getan wird, nicht nur getan wird, sondern der Zeit, der man hinterher läuft, auch noch voraus ist.
Liebenswerte Spinner
Lars Labryga versteht sein Geschäft. Er ist Vertreter der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger, deren nicht geringe Stimmrechte er hier verwaltet, und er kann eine Bilanz lesen. Andererseits muss man nicht einmal rechnen können, um die Probleme von Daimler zu verstehen. Im letzten Jahr kam erst die Ölpreisexplosion, dann die Krise. Das sind zwei Eisberge zuviel für einen Tanker, der besonders große, Sprit fressende und teure Autos baut. Lars Labryga weiß, dass unter diesen Umständen kein Vorstand der Welt ein besseres Ergebnis herausgewirtschaftet hätte, deshalb wird er ihnen am Ende auch gönnerhaft seine Stimme geben. Andererseits muss er seine arg gefledderte Kundschaft bei Laune halten. Also schreitet er zum schimmernden Stolz des Unternehmens, einem neuen E-Klasse-Coupe, das am Bühnenrand wie eine blankpolierte Reliquie aufgefahren ist, wirft einen kurzen Blick auf die silbermetallisch glänzenden Formen und fragt nach einer kleinen Kunstpause: «Warum bauen sie nicht endlich ein paar Autos, die so gut aussehen wie ein Porsche?»
Herr Stockhausen wiederum kann wahrscheinlich keine Bilanz lesen. Trotzdem hat er zu allem eine Meinung und tut sie gut vernehmlich kund. Über eine Stunde hat er den Geschäftsbericht als Einziger mit Zwischenrufen gestört, hat stoisch die wachsende Wut von 6.000 ordentlichen Daimler-Aktionären ertragen, hat sich vom Versammlungsleiter ein ums andere Mal zurechtweisen lassen, als endlich seine große Stunde kommt. Der hagere Mann mit Stoppelbart und Basecap stellt sich als einstiger Daimler-Verkäufer vor, den die Wechselfälle des Lebens nach Hartz IV geführt haben. Trotzdem träumt er unbeirrbar seinen Traum. Er redet von Zukunft, vom Regenwald, vom alternativen Nobelpreis und alles geht ein bisschen durcheinander. Dann kommt er auf die Umwelt und entblättert vorsichtig ein zusammengefaltetes Plakat, auf dem ein kleiner Schimpanse aus dem Urwald guckt. Herr Stockhausen wirkt, vorsichtig gesagt, etwas verwirrt. Trotzdem hören ihm hier alle zu, darunter ein paar der mächtigsten Männer der deutschen Wirtschaft. So eine erzkapitalistische Hauptversammlung ist eine basisdemokratische Veranstaltung, die jeden Grünen-Parteitag mühelos in den Schatten stellt.
Je länger der Nachmittag, desto liebenswerter die Spinner auf der Rednerliste. Herr Richter, ein älterer Herr, der sein Berufsleben in der Abteilung Motorenentwicklung zugebracht hat, erläutert mit vor Herzblut zitternder Stimme die Lösung für alle Daimler-Probleme: Den gegenläufigen Freilaufkolbenmotor mit direkt angeschlossenem Linearstromgenerator würde er gerne honorarfrei auf die Straße bringen. Vorstand Zetsche nickt gütig mit seinem Walrossschnauzer und murmelt etwas von wwwdaimlerslashresearchextern, wo man sich über die Idee sicher freuen werde. Herr Horvath, der sich als Ungar vorstellt und schnell, aber schwer verständlich spricht, will die Stromversorgung der neuen Batterieautos wie bei der Carrera-Bahn lösen. Wir erinnern uns mit Wonne an die funkensprühenden Bürzelbürsten, die immer schwungvoll aus der Kurve geflogen sind. Der leicht verzauselte Herr Müller will den Konzerngewinn in die menschenfreundliche Reederei Hubert Echinger investieren. Der vor Engagement bebende Herr Brand von der Greenpeace-Jugend empfiehlt mit leicht verrutschtem Pathos radikales Umdenken und schließt mit einem herzhaften «We can», für das er sicher lange vor dem Spiegel geübt hat.
Herr Labryga und Herr Stockhausen, Herr Richter und Herr Müller – das sind die vielen Welten einer Hauptversammlung. Und obwohl fast jeder alles besser weiß und den Vorstand kritisiert, regiert ein großes Wir den Saal. Man lobt in kleinen Dosen, man streitet, man wirft sich ein paar Beleidigungen um die Ohren, man schmollt und schreit, aber ist man ist Daimler. Der deutsche Weltkonzern ist ein Familienstück. Seinesgleichen geschieht.
No exit
Hier sind alle Experten, egal von was sie Ahnung haben oder nicht. Kein Wunder, dass die Spezialisten für Experten des Alltags, das Regiekollektiv Rimini Protokoll, die Daimler-HV entdeckt haben. Wo lässt sich sonst an einem Tag verstehen, wie der Kapitalismus tickt? Und wo bekommt man geschenkt, wofür man sonst aufwändig sorgen müsste: zwei Dutzend waschechte Führungskräfte, deren gesammelte Tagesgage allein in die Millionen gehen dürfte und viele, viele begeisterte Aktionäre, die freiwillig und auf eigene Kosten anreisen. Dazu eine authentische Deko und ein großes Videoscreen, auf den die Protagonisten überlebensgroße übertragen werden. Rimini Protokoll produzierte dazu für seine paar Dutzend Gäste, die von der Hauptversammlung friedlich geschluckt wurden, lediglich ein Theaterprogrammheft und vermittelt zwischendurch «Nischengespäche», damit alles seine eigene Bühne wird. Kapitalismus, kompetent und hautnah vermittelt von jenen, aus denen er gemacht ist.
Das Ergebnis war ebenso grandios wie banal. Denn Riminis rührendes Bemühen, nachzuweisen, dass es sich bei dieser faktischen Hauptversammlung um eine große Kapital-Selbstinszenierung handelt, auf der jeder sein Interesse sucht, hat sich prächtig eingelöst. Ja, was soll sie denn sonst sein? Und wie viel Zustimmung brachte der Tag! 99 Prozent Aktionärsstimmen am Ende für Dieter Zetsche, Manfred Bischoff et al. nach dem schlechtesten Daimler-Jahr seit Aktionärsgedenken.
Am Kapitalismus perlt alle Kritik ab, er ist viel schlauer als seine Kritiker denken. Es ist nämlich ganz einfach: Wir sind der Kapitalismus! Aus dieser Inszenierung, die kein Theaterstück ist, gibt es kein Entrinnen.
Elfriede Jelinek goes business
Oder doch? Versuchen wir es zur Abwechslung mit einer Inszenierung, die ein Theaterstück ist. Elfriede Jelinek hat pünktlich zur Krise einen neuen Text vorgelegt, sehr frei nach zwei Wiener Finanzskandalen des letzten Sommers. Dabei geht es um eine Gewerkschaftsbank, die sich mit Arbeiterpensionen verspekuliert hat und die Meinl-Bank, die mit dem guten Namen der traditionsreichen Kaffeerösterei und einem societyauffälligen österreichischen Ex-Finanzminister im Vorstand viel Geld in Offshore-Zertifikaten hat versickern lassen.
Wer allerdings ein ökonomisch fundiertes Krisen-Aufklärungsdrama erwartet, sollte besser das «Handelsblatt» abonnieren. Elfriede Jelinek ist keine Wirtschafts-Expertin, sondern Fachfrau für öffentliches Allerweltsgerede, für die Hall- und Echoräume in den Köpfen und Mündern derer, die zwar keine besondere Ahnung, aber einen Schaden, eine Meinung oder wenigstens ein Gefühl für die Sache haben. Also alle – ausgenommen den Wirtschaftsteil.
«Die Kontrakte des Kaufmanns» sind absatzlos strömende Rede, die erst ins Hirn der ruinierten Kleinanleger kriecht (ca. 20 Seiten), dann in die Redewindungen der Banker («Chor der Greise», ca. 40 Seiten), und auf den letzten 40 Seiten in ohnmächtige «Engel der Gerechtigkeit» beziehungsweise einen Herakles, frei nach dem Fall eines «Hackenmörders», der sein Geld verspekulierte und danach seine Familie mit der Axt erschlug. Insgesamt 99 Seiten Text, den der Regisseur diesmal nicht wie sonst üblich in einer radikalen Strichfassung konzentrieren und die schönsten Stellen theatergerecht herauspräparieren, sondern möglichst ungeschoren in schillerndem Wildwuchs vorstellen wollte.
Regietool Seitenzähler
Für den nötigen Überblick sorgt dabei die zentrale Neuerung in Nicolas Stemanns fünfter Jelinek-Inszenierung: ein rückwärtsrechnender Seitenzähler, installiert als große Digitaluhr links und als kleinerer analoger Abreißkalender rechts auf der Bühne. Er beginnt bei 99 (Seiten) und endet nach getanem Abend bei Null. Außerdem hat der Regisseur vor nichts Angst als vor der Selbstwiederholung, so dass er am liebsten gar nicht inszeniert hätte, sondern im Programmheft eine Art Performance-Lesung ankündigt: «Anders als bei normalen Proben haben wir diesmal die Probenzeit nicht dazu genutzt, Verabredungen zu fixieren, sondern eher Werkzeuge zu produzieren, mit denen wir am Abend dem Text begegnen.» Tatsächlich haben die Schauspieler, obwohl sie den Text in der Hand halten, mit ihren Werkzeugen so gerne gespielt, dass sie ihn sicher drauf haben, und die spontane Performance erweist sich als versierter Modul-Baukasten erprobter Jelinek-Präsentationstechniken in beliebiger Reihenfolge.
Es wird szenisch aufgelöst: Zwei ruinierte Rentner auf dem Sofa, wahlweise zwei Manager vorm Flipchart. Es wird chorisch gesprochen in Zweier, Dreier- bis Fünfer-Gruppen. Es wird in die Videokamera monologisiert, variantenreich aufbereitet von Claudia Lehmann. Es wird assoziativ bebildert: Manager experimentieren mit Clownsnummern, und eine Spielzeugeisenbahn dreht stoisch ihre Runden. Außerdem gibt eine Muppet-Showeinlage, einen Spekulations-Zaubertrick mit Publikum, bei dem ein geldgieriger Zuschauer um 10 Euro erleichtert wird, und Nicolas Stemann performt unter anderem eine Grönemeyer-Schnulze.
Viel Programm mit viel Musik: Von Erik Satie bis Michael Nyman reichen die weitläufig ausgebreiteten Tapetenmuster des Minimalismus, nach denen eine mehrköpfige musikalische Eingreiftruppe mit dem erstaunlich anschlagsicheren Regisseur am Flügel den dahinrollenden Jelinek-Textzug immer wieder in sinnfreien rhythmischen Sound zerlegt.
Entspannte Textspielstunden
Der freundliche Herr Regisseur hatte eingangs darauf hingewiesen, dass es zwar keine Pause gibt, aber das Saallicht eingeschaltet bleibt und er es nicht übel nimmt, wenn man mal rausgeht und sich ein Getränk holt. In den bequemen Stuhlreihen des Kölner Schauspiels lässt sich erstaunlich gut lümmeln. Der Ton wird in die Foyers übertragen, so dass man nicht allzu viel verpasst. Nach circa zwei Stunden hat man sich in der leicht unterspannten Gleichgültigkeit der Mittel eingegroovt, und irgendwann stellt sich zuverlässig das Daimler-Hauptversammlungs-Gefühl ein. Bisschen kleiner alles, weniger Hostessen, schlechteres Buffet, dafür kritisches Theater und wieder alle gemeinsam guten Sinns. Und noch eine Parallele: Je länger der Abend, desto nett-verschrobener die Einfälle. Wir sind nicht nur Daimler, wir sind auch Jelinek.
So reiht sich in entspannter Wellness-Regie eine Textspielstunde an die nächste. Erst gegen Ende wird die Stimmung etwas düsterer, die Engel der Gerechtigkeit stehen als einsame Demonstranten im Regen und im Angesicht des Todes werfen sich die Schauspieler kollektiv vor die Spielzeugeisenbahn: Merkle, Märklin, Märkte – in der Pleite wird alles eins. Oder null. Kurz vor bevor der Seitenzähler zum rauschenden Applaus freigibt, verschwindet das Ensemble in einem golden blinkenden und saunagleich dampfenden Geldschrank, der haargenau so aussieht wie die bewährte Fitness-Zelle von Dagobert Duck.
Es gibt keinen Ausweg aus dem Kapitalismus, nicht mal im Theater über den Kapitalismus. Warum auch, bei so viel schönen Stunden.

Franz Wille, „Theater heute“ Juni 2009
www.theaterheute.de
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