Das Etikett ist Wurscht

Von Fenna Lübsen

04.11.2010 / art Das Kunstmagazin

DAS ETIKETT IST WURSCHT!
Während ihres Studiums hatten Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel so viel Spaß daran, über das Theater zu diskutieren, dass sie es schließlich neu erfanden. Mit ihrem Kollektiv "Rimini-Protokoll" gelten sie mittlerweile als Protagonisten eines neuen Reality-Theaters auf deutschen Bühnen. Im Heidelberger Kunstverein präsentieren sie derzeit ihre erste institutionelle Einzelausstellung. Ein Ferngespräch mit Stefan Kaegi, der zurzeit in Argentinien für ein neues Projekt castet, über die Beziehung zwischen Theater und Kunst und einen künstlerischen Durst nach Narration.
// FENNA LÜBSEN

Im Mittelpunkt der Heidelberger Ausstellung steht die Arbeit "80 Prophezeiungen für das Theater". Was prophezeien Sie dem Theater?

Vor zehn Jahren hieß es noch: Das Theater stirbt! Aber im Vergleich mit der Ausweitung des Kunstbegriffs in den 70er Jahren, ist beim Theaterbegriff noch viel drin. Dort geschieht zu 95 Prozent das Gleiche wie vor 100 Jahren. Trotzdem erleben wir momentan eine wahnsinnige Multiplikation des Publikums. Ich denke, das liegt an dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach "Liveness". Wir reiben uns an Ideen wie Rolle, Fiktion oder Aufführung. Unter dem Namen Theater lassen sich Dinge veranstalten, die die Menschen näher zueinander bringen. Das ist auch einer der Gründe, warum das Theater für uns immer Gegenbegriff zum Fernsehen gewesen ist.

Stecken diese Ideen auch in den "80 Prophezeiungen", die Sie an der Wand des Kunstvereins zeigen?

Die Wandarbeit ist eine Schriftsammlung von Ideen, die sich bis jetzt noch nicht realisiert haben. Es ist der Versuch einzukreisen, wohin das Paradox führen könnte, dass die Leute einerseits für sich sein wollen und andererseits die Nähe zu anderen Menschen suchen. Wir haben sie über die letzten zehn Jahre angehäuft und in Heidelberg mit Menschen aus verschiedensten Berufsgruppen darüber diskutiert, als wir sie baten, sie mit ihrer Handschrift zu übertragen. Teilweise waren das Leute, die einfach vorbeikamen, aber auch ausgewählte Architekten, Totengräber oder Nachbarn, die wir oder der Kurator Jan Holten gesucht haben. Bei einem chinesischen Wärter des benachbarten kurpfälzischen Museums führte das dazu, dass er über Tage mit immer neuen Abschriften vorbeikam, weil er mit seiner Handschrift nicht zufrieden war.

Neben dieser Arbeit, bietet die Ausstellung aber auch eine Art Retrospektive, bei der einige ihrer bisherigen Projekte dokumentarisch aufbereitet sind. Eigentlich sind diese Arbeiten sehr ortsgebunden und leben auch von der Direktheit der Aufführungen. Wie passen sie in einen Ausstellungsraum? Prallen da nicht zwei Welten aufeinander?

Man lässt sich auf ein Gedankenspiel ein, wenn man die Ausstellung besucht. Im ganzen Raum sind 250 Sessel des Heidelberger Stadttheaters, das gerade umgebaut wird, verteilt. Einige hängen als Schaukeln von der Decke, andere sind zu Trümmerhaufen aufeinandergeschichtet, auf wieder anderen kann man sich niederlassen, um über die Prophezeiungen nachzudenken. Sie lassen eine Aufführung teilweise nachempfinden, trotzdem ist es nicht dasselbe. Es gibt keinen klar definierten Moment des Applauses, ein wesentlicher Faktor im Theater. Und es gibt keine vorgegebenen Spielregeln. Damit ist es auch eine Reflexion darüber, wie man sich in diesem Raum aufhalten, wie man ihn benutzen will.

Kann man dann überhaupt noch von "Theater" sprechen, oder werden die Arbeiten im Ausstellungsraum ganz einfach zu "Kunst"?

Ob man das, was am Ende rauskommt, Kunst nennt oder nicht, ist mir ehrlich gesagt wurscht. Je weniger Unterschiede es gibt, desto besser. In anderen Ländern, wie zum Beispiel Amerika, befinden sich oft Live-Art und Ausstellungsraum im gleichen Haus. In Deutschland sind Theater- und Kunstwelt immer sehr getrennt gewesen. Interessanter wäre zu sehen, was die Benutzer in ihrer Gedankenwelt bewegt. Ich glaube, denen ist letztlich egal, was für ein Etikett drauf steht. Sie gucken sich die Projekte an und beginnen sich mit Endlichkeit auseinanderzusetzen, mit Daimler, mit der globalisierten Welt. Unsere Arbeit funktioniert sehr stark über Verführung, statt über dieses 70er-Jahre-Ding der Provokation. Der Benutzer ist nicht im Dunklen eingesperrt oder wird ohne Erklärung einem nackten Körper gegenüber gesetzt, sondern bekommt zum Beispiel ein Telefon in die Hand, und auf der anderen Seite ist eine Callcenter-Mitarbeiterin, die ihn von Indien aus, in ein Gespräch zu verwickeln beginnt.

Sie selbst haben in Zürich Kunst studiert und auch selbst kuratiert. Wie kam es zur Abkehr von der Bildenden Kunst?

Was mich am White Cube immer abgestoßen hat, ist der Mangel an Aufmerksamkeit. Meinem Eindruck nach gab es da immer nur dieses bizarre Gegenüber von Party und sakralem Kontext. Mir schien die Auseinandersetzung mit dem Gedanken des Entertainments schließlich interessanter. Die Leute sitzen mit einem gewissen Anspruch im Theater, weil sie ihre Karte gekauft haben, sind aber auch bereit anderthalb Stunden ihr Handy auszuschalten. Das kann ein wertvoller Begegnungsraum sein. In den letzten Jahren ist auch im White Cube aber vermehrt ein großer Durst nach Narration zu beobachten. Es werden Black Boxes hinein gebaut, um Videoarbeiten zu zeigen und damit auch zeitlich auszustellen. Und es gibt eine große Lust, echte Körper im Museumsraum zu haben.

Denken Sie dabei an Künstler wie Marina Abramovic, die im vergangenen Jahr 700 Stunden im MoMA gesessen hat?

Abramovic ist für mich eher der Inbegriff dessen, was in den 70ern in der Kunst wichtig war: Präsenz, Präsenz, Präsenz. Es erinnert ein bisschen an eine merkwürdige Reise zurück in der Zeit. Gleichzeitig gibt es Künstler wie Tino Sehgal, bei dem es eher um die Flüchtigkeit einer Begegnung geht. Das kommt mir persönlich näher.

Gehen Sie mehr ins Theater oder ins Museum?

Ich würde sagen: halb halb.

Was war denn die letzte Ausstellung, die Sie beeindruckt hat?

Der Menschenauflauf letzte Woche auf der Plaza de Mayo hier in Buenos Aires, nachdem Nestor Kirchner gestorben war, die vielen Zettel rund um die Plaza, auf denen selbst kleine Kinder geschrieben haben: "Danke, lieber Präsident". Gleichzeitig war es eine Aufführung von Menschen, die ohne genaue Anweisung rhythmisch miteinander klatschten, ohne in ihrer Rastlosigkeit zu wissen, was sie dazu skandieren sollten.