Auftritt für vier Muezzine

Stefan Kaegi inszeniert in aller Welt Dokumentartheater. Im neuen Stück erzählen vier Kairoer Männer aus ihrem Leben

Von Mirko Heinemann

16.02.2009 / Berliner Zeitung

KAIRO. Einmal wurde es für Stefan Kaegi gefährlich. Er war mit der Kamera unterwegs in einem jener Vorstadtviertel Kairos, die in den letzten Jahren hochgezogen wurden, um die rasant wachsende Bevölkerung unterzubringen. Kasernenartige Plattenbauten wurden in die Wüste gesetzt, die Wege bestehen aus Sand, überall liegt Müll. Stefan Kaegi wollte ein Video drehen, ein paar Bilder aus dem Alltag seines Protagonisten, der dort lebte. Er brauchte sie für das Bühnenbild seines Theaterstücks.
Nachbarn wurden aufmerksam. Blitzartig verbreitete sich das Gerücht, der Mann mit der Kamera spähe in Wohnungen hinein. Er filme unverschleierte, gar nackte Frauen. Einige Männer wurden wütend, reckten Fäuste. Kaegis Begleiter versuchte die Erregten zu beruhigen. Es dauerte lange, bis sich die Menge zerstreute. Das Misstrauen in den unteren Schichten Ägyptens ist groß, der Aberglaube weit verbreitet. Viele fürchten sich vor dem bösen Blick, oder vor dem eines Ungläubigen.

Experten des Alltags

Stefan Kaegi ist immer noch bestürzt. "Ich hoffe, dass mein Protagonist keine dauerhaften Probleme in seinem Viertel hat", sagt er mit ernster Stimme. Kaegi, schlaksig, dunkle Haare, Brille, sitzt im Theatersaal des Kulturzentrums Al Sawi, das in den Pfeiler einer Nilbrücke hineingebaut ist. Die letzten Proben laufen, zwei Tage später sollte die Premiere des Stückes "Radio Muezzin" stattfinden. Es stehen keine Schauspieler auf der Bühne, sondern echte Muezzine aus Kairo, die vom Minarett zum Gebet rufen.
Als die Stadtregierung von Kairo mitteilte, sie wolle in Zukunft den Gebetsruf zentral per Radio in die Moscheen übertragen, die ihn dann gleichzeitig vom Lautsprecher ihres jeweiligen Minaretts senden, war Kaegi gerade in der Nähe, in Amman, der Hauptstadt Jordaniens. Er wollte wissen, was mit den Muezzinen geschehen würde, ob sie arbeitslos werden. Ein spannendes Thema, fand er. Im Leiter des Goethe-Instituts in Kairo, Heiko Sievers, fand er einen Partner. Das Stück mit dem Titel "Radio Muezzin" soll im März im HAU 2-Theater Berlin gezeigt werden und anschließend auf Theaterfestivals in ganz Europa zu sehen sein.
Stefan Kaegi inszeniert das Leben. Die Mitwirkenden auf seiner Bühne sind immer authentisch, "Experten des Alltags", wie er sagt. Er hat mit bulgarischen Lastwagenfahrern, Schweizer Modelleisenbahnern und multinationalen Stewardessen gearbeitet. Seit acht Jahren reist er um die Welt: Delhi, São Paulo, New York, Dubai, Berlin. Als eine Art Kulturreisender beobachtet er die Folgen der Globalisierung. Eine Wohnung hatte er in den letzten Jahren nicht. Seine "Lebensachse" aber sei Berlin, sagt er, hierher kommt er immer zurück; am hiesigen HAU-Theater inszeniert er regelmäßig Theaterstücke mit seiner Gruppe "Rimini Protokoll".
Kaegi stammt aus der Schweiz, aufgewachsen ist er in der barocken Kleinstadt Solothurn. In der Familie liegt sein Nomadentum nicht. Seine Eltern, der Vater Ingenieur, die Mutter Lokaljournalistin, seien "festgewachsene Schweizer", sagt Kaegi. Für ihn ist der Begriff Heimat inzwischen ohne Bedeutung: "Ich wüsste nicht, wo die liegen sollte." Auch beruflich hat er eine lange Wanderung hinter sich; er studierte in Zürich Kunst und später in Gießen Theater. Er hat als bildender Künstler gearbeitet, als Schriftsteller und als Journalist.
Das Theater fasziniert ihn, weil es die Chance bietet, authentisch zu sein. "Ich bin keiner von den Regisseuren, die ihre Schauspieler kneten, bis sie auf der Bühne ihre mythischen Welten umsetzen", sagt er. Vielmehr ist die Bühne für ihn ein Labor für die Wirklichkeit, "ein Fernglas, wo ich mir Realität sehr genau angucken kann". So, wie er arbeitet, könnte er auch Dokumentarfilme drehen. Doch im Gegensatz zum Film, sagt Kaegi, könne er im Theater nicht "an dem Ergebnis herumschneiden, bis es in meine Vorstellung hineinpasst". Dazu kommt: Theaterpublikum ist an seine Plätze gebunden, es kann nicht wegzappen.
Mit Stefan Kaegi in Ruhe Kaffee zu trinken, ist unmöglich. Ständig klingeln beide Handys, die Anrufe kommen aus Berlin, aus São Paulo oder wer weiß woher - die meisten direkt von nebenan, aus dem Al Sawi-Theater. Geduldig beantwortet er Fragen oder bittet um Rückruf. Nie wirkt Kaegi gestresst. Seine alpenländische Ausgeglichenheit ist das einzige Charaktermerkmal, das man mit viel gutem Willen auf seine Schweizer Herkunft zurückführen könnte. Kaegi spricht weder ein rollendes "R" noch ein gutturales "K". Einen Akzent hat er auch nicht. Dafür kann er sieben Fremdsprachen.
Stets beobachtet er seine Umgebung, lugt forschend über seine Brille hinweg. Es gibt viel zu sehen im Café des Kairoer Kulturzentrums Al Sawi. Von hier aus blickt man auf den Nil und auf die Schemen einiger Hochhäuser im Dunst. Es wäre ein idyllischer Ort, störte nicht dieser tosende Verkehr, das Hupen der Autos, das Röhren ihrer alten Motoren. Gäste kommen und gehen, drei Jungen lehnen gelangweilt am Tresen und beobachten die Szenerie. Die Wintersonne steht als trüber Fleck am Himmel, sie schafft es kaum, sich durch Smog und Saharastaub zu kämpfen.
Stefan Kaegi war zwei Mal für mehrere Wochen in Kairo. Tagelang war er unterwegs auf der Suche nach Mitwirkenden für "Radio Muezzin". Er wanderte die sechsspurigen Straßen im Zentrum entlang und zwängte sich durch enge Gassen islamischer Viertel. Er besuchte Moscheen über Moscheen und sprach mit den Angestellten. Überrascht war er, wie aufgeschlossen die meisten Muezzine gegenüber seiner ausgefallenen Idee waren, ihre Lebensgeschichte auf die Bühne zu bringen. Viele Biografien hat er sich erzählen lassen, immer mit einem Übersetzer an der Seite - ein mühsames Unterfangen. Als er endlich seine vier Muezzine ausgewählt hatte, begann die Kleinarbeit. Welche Details sind für Zuschauer in Kairo interessant, welche für das deutsche Publikum? Wie inszeniert man sie, wie vermeidet man Klischees? Wie setzt man das Thema Islam um, ohne missionarisch zu wirken?
Muezzine sind nicht mit den Imamen zu verwechseln. Sie sind keine Prediger, sondern so etwas wie die gute Seele der Moschee. Sie arbeiten als Hausmeister, sie betreuen Betende und singen zu den festgelegten Zeiten den muslimischen Gebetsruf, den Asan. Angestellt sind sie beim ägyptischen Religionsministerium. Ihr Verdienst ist gering, gleichwohl verspricht die Anstellung beim Staat Sicherheit. Muezzine sind keine Geistlichen, sondern gewöhnlich wenig gebildete Hilfskräfte, die zuvor meist in anderen Berufen gearbeitet haben.
Zurück im Theatersaal. Es sind nur noch wenige Stunden bis zur Premiere. Stefan Kaegi ist genervt. "Aha", sagt er mit knarrender Stimme zu seiner Übersetzerin, "israelische Fluglinien dürfen also in Ägypten nicht erwähnt werden. Aber wie erklären wir dann den Zuschauern, dass die Moschee neben dem Büro der israelischen Fluglinie liegt?" Die Übersetzerin hebt ihre Hände: "Es ist dein Risiko!"

In Kreuzberg lockerer

Das Religionsministerium hatte Stefan Kaegi gegenüber größte Bedenken geäußert. Muezzine, hieß es, seien nicht die Richtigen, um das Land auswärts würdig zu vertreten. Auf der Premiere in Kairo würde ein Vertreter des Ministeriums anwesend sein. Und genau zuhören. Stefan Kaegi musste mit der Schere im Kopf arbeiten. Israel, Schmutz, Bildungsprobleme, der traurige Zustand mancher Moschee - vieles musste er umschreiben. Das Thema Gehälter war tabu.
Zensur ist in Ägypten allgegenwärtig. Jede öffentliche Veranstaltung muss von den Behörden genehmigt werden. Wer einen Film drehen will, muss sogar das Drehbuch bei der Zensurbehörde einreichen. Viele Feinheiten sind zu beachten, vieles ist zu umschreiben. Etliches von dem, was die Muezzine im Vorgespräch erzählten, wollten sie auf der Bühne nicht wiederholen. Das ägyptische Publikum, glaubt Stefan Kaegi, könne aus den Sprachnuancen heraushören, was gemeint ist. Für die Berliner Aufführungen hofft er, dass die Muezzine "lockerer" werden. Dass sie Dinge erzählen, die sie auf der Premiere in Ägypten aus Angst verschwiegen.

Stimmen der Moschee

Einheitsruf: Der Minister für religiöse Stiftungen will den zentralisierten Muezzin einführen. Etwa 30 auserwählte Ausrufer sollen über einen Radiosender aus allen staatlichen Moscheen übertragen werden.

Das Stück: Im Zentrum von "Radio Muezzin" stehen vier Muezzine: ein blinder Koranlehrer; ein Ex-Panzerfahrer; ein Elektriker und ein Bodybuilder und Vizeweltmeister im Koranzitieren.


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