Apokalypse im Treibhaus

«Heuschrecken» von Stefan Kaegi in der Box des Schiffbaus

Von Tobias Hoffmann

21.09.2009 / Neue Zürcher Zeitung

Letzter Teil des Premierenpakets, das Barbara Frey zu ihrem Einstand am Schauspielhaus Zürich geschnürt hat, war Stefan Kaegis «Heuschrecken»-Projekt. Kaegi hat in der Box des Schiffbaus ein dokumentartheatralisches Labor eingerichtet, das mehr als selbständiger Organismus denn als Medium zur Wissensvermittlung in Erinnerung bleibt.


Zehntausend Stück Lebendfutter für Reptilien – einer wie Stefan Kaegi ist dazu imstande, aus ihnen die Hauptdarsteller eines Theaterstücks zu machen. «Heuschrecken» heisst es, um Heuschrecken geht es, aber vielleicht auch um etwas anderes, was sich im Theater eigentlich nie wirklich darstellen lässt: die Masse. Kaegi, das Schweizer Drittel des renommierten Regiekollektivs Rimini Protokoll, hält diese Masse in einem treibhausähnlichen Terrarium (genannt: das «System») in Schach. Vierzehn Meter lang und vier Meter breit, zieht es sich durch die gesamte Box im Schiffbau – wie eine Masoala-Halle en miniature, doch ganz ohne tropische Üppigkeit, sondern karg im Innern, wie leergefressen von diesen Insekten, die schon seit biblischer Zeit als verheerende Schädlinge aktenkundig sind. 
Heuschrecken als Geisseln der Apokalypse werden gleich zu Beginn des Theaterabends evoziert, von der Schauspielerin Lara Körte, die auf der Technikbrücke der Box ihren Platz hat, Verkünderengel, Kommandantin und Protokollführerin zugleich. Immer wieder liest sie aus «Logbucheinträgen», die auf vergangene Phasen des Projekts Bezug nehmen. Diese Aufführung ist nicht reine Gegenwart, sondern der Zuschauer wird Zeuge eines Prozesses in vollem Gang. Im Treibhaus wird schliesslich gestorben und gezeugt, was das Zeug hält. An schlechten Tagen sind es rund fünfzig Abgänge, erfährt man. Oder wie es Dr. Jörg Samietz witzelnd in das Lebensmotto fasst: «Live fast, die young.» 
Dr. Samietz ist, anders als Lara Körte, ein klassischer Rimini-Performer: weder Schauspieler noch Laiendarsteller, sondern – als promovierter Biologe und Insektenforscher – Experte, der vor Publikum seine Faszination für Heuschrecken begründen darf: Sie seien extrem robust, hätten die nötige Ausrüstung und fast alle Fähigkeiten schon bei der Geburt, kurz: sie seien sehr effizient und die sicheren Gewinner der Evolution. Von Effizienz kann man bei dieser Aufführung, nimmt man die Wissensvermittlung zum Kriterium, nicht reden. Das Treibhaus-Labor, mit Technik vollgestopft und umgeben, zielt kaum je auf geradlinige Information, sondern generiert kleine Geschichten und zweckfreie Experimente. Die cellistische Tonspur des Musikers Bo Wiget unterstreicht den narrativen Charakter des Abends. 

Samietz sind zwei Co-Experten zur Seite gestellt: die Astrophysikerin und Vermögensverwalterin Barbara Burtscher und der aus Somalia stammende Lebensmittelchemiker Zakaria Farah. Der Bühnenbildner Dominic Huber hat Farahs biografische Stationen in die Topografie des Terrariums eingezeichnet. Ausserdem sind bestimmte Bereiche als Rohstofflager markiert. Die Wanderungen der Heuschrecken werden im Kontext von Themen wie Klimawandel, Wasserknappheit, Migration oder Kampf gegen den Hunger interpretiert. Wenn die Kamera eine auf die Tafel mit der Aufschrift «Erdöl» krabbelnde Heuschrecke erfasst – die Videotechnik ist in Andi A. Müllers Obhut –, ortet sie Frau Burtscher prompt als potenziellen «Investor». 
Investoren als Massentiere – die Anspielung liegt nahe. Aber je länger der Abend dauert, desto klarer wird, dass keiner der Experten das Verhalten der Heuschrecken in der Masse ernsthaft und konsequent zu menschlichem Verhalten in Beziehung setzt. Wie sollte auch zu deuten sein, dass manche Heuschrecken es sich auf dem Grenzzaun, der das Terrarium durchschneidet, gemütlich machen – keine Migranten somit, sondern Grenzbesetzer? 

Die skurrilen Interventionen von Herrn Farah und Frau Burtscher gewinnen szenisch die Oberhand. Farah erzählt Geschichten aus dem Alltag somalischer Nomaden und setzt trockene Pointen, indem er die Eigenschaften von Kamelen denen der Heuschrecken entgegensetzt, als ginge es darum, einen Überlebenskünstler gegen den andern auszuspielen. Frau Burtscher dringt zum Schluss mit einem Astronautenanzug ins System ein und doziert über die Wasservorkommen unter der Marsoberfläche. Die Menschheit, deutet sie damit an, muss an einen Planetenwechsel denken, wenn die Heuschrecken auf der Erde alles weggefressen haben. «Alles verzehrt», lautet denn auch lakonisch der letzte Satz; von den bei Halbzeit im Terrarium placierten Gerstenkeimlingen sind nur noch Stummel übrig. 

Das Rimini-Protokoll-Prinzip ist nach wie vor gewöhnungsbedürftig, weil es zwischen Performance und Infotainment pendelt. In «Heuschrecken» allerdings unterläuft Stefan Kaegi jede Wissenschaftlichkeit, gerade in der sehr aufwendigen Inszenierung der Laborsituation, und macht die Experten auf geheimnisvolle Weise zu Trabanten des Systems, nicht zu seinen Kontrolleuren. Was man als totales Antitheater bezeichnen müsste, denn dann hätte man die Macht an einen nichtspielenden Akteur verloren, das Heuschreckenkollektiv. Vielleicht müssen wir, um bei der Evolution doch noch eine Chance zu haben, einfach mit Spielen aufhören. 



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