Akte Rimini

Das Hörspiel „Deutschland 2“ verfremdet die politische Rede

Von Frank Kaspar

30.06.2002 / FAZ

Für die „Zeit“-Beilage „Leben“, die seit Jahren gerne ein „jetzt“-Magazin für Erwachsene wäre, redete Wolfgang Thierse jüngst sehr ernüchternd an Cosma Shiva Hagen vorbei, die seit einigen Wochen in einem Fernsehmagazin Kinder für Politik begeistern soll. Hagens eigene Begeisterung hält sich in Grenzen. „Wenn ich mit irgendwas nicht einverstanden bin“, gab sie zu Protokoll, „würde ich nie versuchen, dieses Problem mit der Politik zu lösen.“ Politiker finde sie uninteressant bis unglaubwürdig, ihre Rhetorik diffus und wenig hilfreich. „Sollen doch die jungen Leute, denen nicht gefällt, was wir tun, selbst Politiker werden und es anders machen“, gab Thierse vergrätzt zurück.

Wenige Wochen zuvor hatte der Bundestagspräsident erst einigen hundert jungen und älteren Menschen die Suppe versalzen, die es ihm und den Seinen peinlich genau gleichtun wollten. Im alten Bonner Plenarsaal plante das Regiekollektiv „Rimini Protokoll“, eine Bundestagsdebatte mit freiwilligen Akteuren möglichst synchron nachzustellen. Mehr als zweihundertdreißig Parlamentarier auf Zeit, vom Konditor bis zum Zahnarzt, vom Philosophieprofessor bis zum Saaldiener im Ruhestand, meldeten sich, doch der Hausherr Thierse versagte dem Festival „Theater der Welt“ seine Zustimmung. Die Parallelwelt fand schließlich am 27. Juni auf der anderen Rheinseite statt, und Thierse ist für seine Abwehr genug gescholten worden. Zeit also, sich den fundamentaleren Fragen zuzuwenden, die die Inszenierung „Deutschland 2“ aufwirft, der Frage etwa, wer eigentlich spricht, wenn Repräsentanten reden, und was mit jenen geschieht, die ihre Stimme abgegeben haben, wenn sie sich diese für einen einmaligen Probelauf wieder aneignen. Darauf konzentriert sich das gleichnamige Radiostück, das Helgard Haug und Daniel Wetzel für das Format „pop drei“ des WDR produziert haben.

Haug und Wetzel, die mit Stefan Kaegi und Bernd Ernst die Formation „Rimini Protokoll“ gebildet haben, nutzten schon in ihren Hörspielen „O-Ton Ü-Tek“ und „Apparat Herz“ (Deutschlandradio Berlin 2000/2001) die Sprache der Medien als Ausgangsmaterial. Für die Radioarbeit „Sitzgymnastik Boxenstopp“, ein gemeinsam mit vier Seniorinnen entwickeltes Formel-Eins-Drama, untersuchten sie mit Mitteln des Theaters gegensätzliche Lebenssphären. „Deutschland 2“ verbindet beide Strategien. Die strikte Regieanweisung, genau wiederzugeben, was ihnen über das Parlamentstelefon live zugespielt wurde, machte die Sprecher selbst zu Medien. Wie in Trance klingt manches vernuschelt und verwischt. In anderen Momenten verleihen die Doubles ihrem Echo eine ganz eigene Vehemenz.

So überzeugend geriet stellenweise die Mimikry, daß Freunde der Regisseure die Sendung zur Erstausstrahlung am 15. Juli bei WDR 3 nicht fanden, weil sie sie für authentische Berichterstattung hielten. Dabei wird „Deutschland 2“ eigentlich erst im Radio auch für Außenstehende interessant. Anders als in der reinen Kopie sind hier den Teilnehmer ihre unterschiedlichen Beweggründe anzuhören und die Urteile über Politik als Theater, die sie ihrer Metamorphose abgewonnen haben.

Frank Kaspar

Heute um 23 Uhr bei WDR Eins live.



„Radio Tagebuch“, F.A.Z. vom 30. Juli 2002


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