900 Kilo Plastik als Monatsmiete

Von Sarah Heppekausen

16.10.2010 / nachtkritik

In dieses Viertel Istanbuls kommt kaum jemand, der dort nicht lebt. Tarlabaşi beginnt gleich hinter einer mehrspurigen Straße. Gerade noch führte der Weg durchs pralle Geschäftsleben, vorbei an Bars und Boutiquen, Restaurants und Banken. Jetzt aber haben die meisten Fenster zerbrochene Scheiben. Und die Wäsche, die auf Leinen über den engen Straßen zum Trocknen hängt, haben ihre Besitzer wohl kaum in einem der teuren Läden jenseits der großen Straße gekauft. Die räumliche Distanz ist minimal, aber zwischen diesen beiden Gegenden des Stadtteils Beyoğlu liegen Welten. Hier das Geld, dort die Armut.

Mülldepot und Warenlager
Bayram Renklihava wohnt in Tarlabaşi. Er ist Müllsammler wie die meisten seiner Nachbarn. Sein Bruder Mustafa führt uns durchs Viertel, in dem eine Atmosphäre zwischen deprimierender Hinterhofdüsternis und faszinierender Organisiertheit herrscht. Offen und fast stolz präsentieren er und seine Familie das Haus. Eng, kaputt, muffig, beschränkt aufs Allernötigste. Gegessen wird auf dem Boden, die Holztreppe ist absturzgefährdet. Und die untere Etage ist voller Müll. Aber "vollgemüllt" wäre das falsche Wort. Die Plastikteile sind in riesigen Tüten gesammelt. Es ist Mülldepot und Warenlager. Denn gesammelter Müll bringt Geld. 900 Kilogramm Plastik sind die monatlichen Kosten fürs Haus, erzählt Bayram auf der Bühne.

Die Führung durchs Viertel ist nicht inbegriffen im Recherchestück, das die Rimini-Protokollanten Helgard Haug und Daniel Wetzel über die Müllsammler konzipiert und in der garajistanbul, dem wichtigsten freien Haus für zeitgenössisches Theater in Istanbul, uraufgeführt haben. Sie fügt dem Abend und dem Ortsfremden aber ein unmittelbar sinnliches und rücksichtsloses Basiswissen zu.

Sammeln, Sortieren, Verwerten im Kreislauf
Natürlich fehlt in der Inszenierung nicht der Müll, riesentütenweise kippen die vier Alltagsexperten Dosen, Plastikflaschen, Kanister und Pappe auf die Bühne. Das macht ordentlich Krach, aber es stinkt nicht. Der Müll ist sauber, die Tüten weiß, die Arbeitsklamotten falten- und fleckenfrei. Die Sammler selbst erzählen selbstbewusst und mit Humor von ihrer Arbeit. Die ist nicht schmutzig, sondern ehrlich, körperlich und wohl strukturiert. "Solange du arbeitest, gerätst du nicht in Schwierigkeiten", zitiert einer seinen Vater.

Rimini Protokoll zeigt in "Mr. Dağacar and the Golden Tectonics of Trash" nicht das in Istanbul äußerlich sowieso sichtbare Bild. Etliche Sammler ziehen jede Nacht durch die Straßen und nehmen mit, was die anderen säckeweise auf die Straße stellen. Das kann kein Traumjob sein. Haug und Wetzel lassen die vier erzählen - von Albträumen, in denen einer seine toten Kinder im Müllsack zum Friedhof bringt, von ihren Wunschberufen wie Lehrer oder Imam, von den Vor- und Nachteilen des Eisen- oder Plastiksammelns, von ihrer Vorstellung, einen modernen Entsorgungsbetrieb zu bauen, oder von der Freiheit, die sie in ihrem Job besitzen. Ausgestellt wird die menschliche Alltäglichkeit, nicht moralische Fragwürdigkeit. Die Sammler wühlen nicht im Dreck, sie sind Akrobaten an und mit ihren Handkarren, Tütentänzer und Sortierungskünstler. Keineswegs eine "visual pollution", wie die Stadtverwaltung sie nennt.

Dem Kollektiv entrissen
Haug und Wetzel verknüpfen diesen Haupterzählstrang mit zwei weiteren, den Auswertungen des Erdbeben-Observationszentrums und dem Schattentheater des türkischen Karagöz-Spielers Hasan Hüseyin Karabağ. Dramaturgisch bleibt die Verbindung eine konstruierte, jedes Thema für sich genommen ist interessant, aber gegenseitig befruchten können sie sich kaum - zumindest nicht für denjenigen, der des Türkischen nicht mächtig ist.

Spannender ist der Entschluss, das rimini-protokollantische Arbeiten offen zu reflektieren. Die "Experten des Alltags" schieben immer wieder Passagen aus der Probenzeit ein. Das Team habe sich gefragt, ob es richtig sei, die vier Sammler als Individuen aus ihrem (Arbeits-)Kollektiv zu reißen? Welche Geste es sei, sie auf die Bühne zu bringen? Was eine Berlin-Reise für sie bedeuten könne? Und sie erzählen von dem verworfenen Plan, eins ihrer Depots auf die Bühne zu bauen.

Reflexion des Projekts
Rimini Protokoll legt die produktionseigene Metaebene frei, zeigt Probleme dieser Arbeit, die im Rahmen des Istanbuler Kulturhauptstadtprojekts "Istanpoli" entstanden ist und im November in Essen bei Pact Zollverein aufgeführt wird. Als gäbe es doch immer noch eine Restunsicherheit in ihrer Art der Gegenwartsforschung.

Die außerplanmäßige Führung durch die Mülldepots in Tarlabaşi hat die Umstände erklärt. Der Theaterabend zeigt den Menschen. Zumindest einen Ausschnitt. "Wenn jemand dein Leben in einen Text umwandelt, fühlt es sich nicht mehr wie deins an", sagt Sammler Abdullah Dağacar. Ein mulmiges Gefühl bleibt.


Projekte

Herr Dağacar und die goldene Tektonik des Mülls