10 000 Insekten spielen Theater

Heuschrecken in Zürich.

Von Wolfgang Bager

21.09.2009 / Südkurier

Nein, es geht nicht um die Finanzspekulaten der Bahnhofstraße. Gemeint ist die afrikanische Wanderheuschrecke, lateinisch: Locusta migratoria.
Knapp 10 000 dieser putzig-furchterregenden Exemplare spielen derzeit im Zürcher Schiffbau unter Anleitung von Regisseur Stefan Kaegi von der Truppe Rimini Protokoll die Hauptrolle in dem Stück „Heuschrecken“. Schauplatz ist ein 14 mal 4 Meter großes Terrarium, in dem die Tierchen eine Art Wüstenlandschaft bevölkern, mit Bergen, Tälern und einigen Zivilisationserrungenschaften wie Zäune, Schilder, Scheinwerfer und Swimmingpool. Die Zuschauer sitzen um das Terrarium herum und werden in den hinteren Reihen mit Ferngläsern zur genauen Beobachtung ausgestattet.
Von außen, aus übergeordneter Warte, auf eine Gesellschaft herab und in sie hineinzublicken, Verhaltensweisen, Gesetzmäßigkeiten oder Chaos und Willkür zu studieren, das muss doch schon immer der Traum eines jeden Theatermachers gewesen sein.
In Zürich geht er derzeit in Erfüllung. Schnell wird klar, die Heuschrecken, das sind wir, das Terrarium als globalisierte Welt. Wir sehen Zusammenrottungen, Einzelgänger, Verteilungskämpfe und Liebesszenen. Schnell schwinden Distanz und Unterschiede von Mensch zu Insekt, auch wenn die Heuschrecke mit ihrem hitze- und strahlungsbeständigen Chitinpanzer, ihrem minimalen Wasserhaushalt und ihrer Anpassungsfähigkeit dem schwachen Menschen-Fleisch-und-Blut weit überlegen ist.
Voyeuristische Einblicke, die wir sonst aus Big-Brother-Containern kennen, werden kommentiert und wissenschaftlich erläutert von drei veritablen Experten aus der Zoologie, Lebensmittelchemie und Astrophysik. Eine Schauspielerin führt Logbuch und fasst die Beobachtungen zusammen, Bo Wiget liefert mit seinem Cello Musik und andere Geräusche. Aus wissenschaftlichem Anschauungsunterricht, philosophischer Weltbetrachtung, Aktionstheater, Videokunst und Event-Performance entsteht so ein Gesamtkunstwerk ganz besonderer Art. Im Mittelpunkt des Interesses: en etwa sechs Zentimeter langes und zwei Gramm schweres Insekt.
Ganz professionell bedienen sich die Experten aller Möglichkeiten des medialen Handwerks. Da gibt es eine spannende Sportreportage von einem Heuschreckenwettrennen, und auch die Gepflogenheiten modischen Infotainments werden nicht ausgespart („Barbara, wie sieht's denn aus im Süden Brasiliens“). Der Wissenschaftler wagt sich selbst ins Terrarium, seine Mitarbeiterin auch, allerdings nur im Raumanzug. Das Eindringen von Menschen in fremde Lebensräume, sei es nun als Kolonialherren oder Astronauten, auch das wird thematisiert.
Eine Schildkröte macht sich samt laufender Kamera auf zum Blauhelmeinsatz durch unwegsames Gebiet, wir sehen Flüchtlinge an der Grenze der USA, die einen Zaun zu überwinden versuchen. Wir beobachten überdies ein gut organisiertes Bestattungswesen in Form von Kannibalismus.
Aber auch musisch geht es zu , etwa, wenn dieser Zaun wie Saiten einer E-Gitarre funktioniert nd die darauf herum krabbelnden Tierchen den interessantesten Sound erzeugen. Ganz wunderbar, wenn Bo Wiget zum Paarungsakt zweier Heuschrecken ein anrührendes Liebesliedchen singt. Auch Kochrezepte zur Zubereitung von Heuschrecken, die paniert besonders köstlich schmecken sollen, werden dargeboten.
Doch die Moral von der Geschicht ist bei aller Flohzirkus-Belustigung durchaus ernst. Nicht umsonst spielten Heuschrecken in apokalyptischen Szenarien stets die Hauptrolle, von Moses, der Offenbarung des Johannes bis hin zu Franz Müntefering. Schließlich hat der Zoologe Jörg Samietz während der Vorstellung eine große Zahl von Schälchen mit üppig sprießendem Weizen im Terrarium verteilt. Sie tragen Schildchen mit der Aufschrift „Diamanten“, „Öl“, oder „Gold“. Pünktlich zum Schlussapplaus ist davon nichts mehr übrig. „Alle Ressourcen aufgebraucht, Mission abgeschlssen, Licht aus“ wird die Sprecherin sagen. Viel Beifall für alle 10 000 Mitwirkenden von einem beeindruckt staunenden Publikum.

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