Kirchner
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© Stefan Kaegi / Rimini Protokoll
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Drei Audiotouren für drei Städte:
Verweis Kirchner
System Kirchner
Kanal Kirchner
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Das neue Theater: Urbaner Raum, potentieller Raum.
"(...) Ich beginne mit einem Theater als "individuelle Audiotour" von Stefan Kaegi und Bernd Ernst. Einzeln, im Abstand von 8 Minuten, werden die Besucher, mit einem Walkman bewaffnet, für 45 Minuten durch Straßen, Durchgänge, Hinterhöfe, Industrieanlagen, Kanalufer und Gleislandschaften geschickt. Am Anfang wird eine zwischen Mystery- Serie und Kriminalgeschichte changierende absurde Erzählung begonnen. Ein gewisser Bibliothekar soll spurlos verschwunden sein. Der Zuschauer befindet sich bald in der Position eines Verfolgers oder Verfolgten. Vom Kopfhörer kommen Anweisungen von der Art "Gehe jetzt nach links. Siehst du an dem vergitterten Tor den hohen Mast? Sieh hinauf, erkennst du die Überwachungs- Kamera? Biege hier um die Ecke. Wirst du verfolgt? Achte auf die Männer in blauen Hemden. Jetzt bist du in der Zone, bleibe nicht stehen, wenn du die Grasfläche erreicht hast, bist du in Sicherheit. Gehe an dem Schrankenwächter vorbei, laß dich nicht aufhalten usw."
Die Tour wird zu einer manchmal komischen, aber zugleich beunruhigenden Erkundung oder Expedition im Stadtraum. Auch vertraute Straßenecken erscheinen - mit der drängenden Stimme des Erzählers im Ohr und im Klima der Erzählung irgendwo im Niemandsland zwischen Akte X und Kafka - sonderbar verfremdet. Beinahe verirrt man sich in vertrauter Umgebung. Am Ende hat man das Gefühl, ein großes Abenteuer erlebt zu haben. Es ist ein Theater für je einen einzelnen Zuschauer, der sich aber keineswegs allein fühlt. Denn indem man von den Anweisungen zu einem Beobachter gemacht wird, fällt man selbst den anderen Passanten auf und beginnt sie ein wenig anzustarren, besonders dann, wenn jemand ein blaues Hemd trägt. Der theatral erzeugte Raum und der alltägliche Umraum überlagern sich: eine verunsichernde Raumverdoppelung geschieht, in der man sich auf unvorhersehbare Ereignisse und Begegnungen einstellt. Ein Raum der Beobachtung, der Möglichkeit, auch der Angst hat sich eröffnet. Wie am Tatort der Kriminalgeschichte kann jedes Detail potentiell von Bedeutung sein. Und in den visuell erblickten und taktil erlaufenen Raum projiziert sich der allmählich entstehende mentale Raum der Verfolgungsgeschichte.
Der Wahrnehmungsapparat spaltet sich auf diese Weise: das dauernde Zuhören
macht das Sehen fremd, man befindet sich in einem sonderbar gedoppelten
Raum, in zwei Welten, die doch auch eine sind. (...)"
Hans-Thies Lehmann
Aus: Theaterwissenschaftliche Beiträge 2000 - Insert "Theater der Zeit"
Von: Stefan Kaegi, Bernd Ernst
Aufführungen: Verweis Kirchner Zeitenwende Giessen, Juli 2000, System Kirchener Frankfurt a.M., Mousonturm, 2000 - 2001, Kanal Kirchner München, SPIELART Festival, November 2001 (Ausgezeichnet mit dem Jahresstern der Münchner Abendzeitung)