100% Berlin reloaded

Von Haug / Kaegi / Wetzel

Flashback: 01.02.2008 - das war noch vor der umspannenden Verbreitung sozialer Medien, vor der Erfindung des Begriffs “postmigrantisches Theater” und vor der Zerrüttung des Vertrauens in Wahrheit durch die Wendung “Fake News”. Auf die Bühne des HAU1 tritt ein Mann. Er ist Statistiker. Er hatte vor Jahren schon mal an der Bühnenpforte des Theaters angeklopft, als er im Rahmen der Volkszählung untersuchen sollte, ob sich in diesem Haus eine Hausmeisterwohnung befände - mit einer Hausmeisterfamilie, die gezählt werden könnte…

Jetzt stand er auf der Bühne, begrüßte das Publikum und weihte sie in die Regeln des Abends ein: Die Bevölkerung der Stadt Berlin sollte durch 100 Menschen abgebildet werden. Aus der Bevölkerungsstatistik waren dafür 5 Kategorien ausgesucht worden: Alter, Geschlecht, Wohnbezirk, Familienstand, Nationalität. Der Statistiker war der erste von insgesamt 100 Menschen, die sich, auf der sich nun langsam in Bewegung setzenden Drehbühne, in den kommenden Minuten an das Mikrophone schoben und sich als Teil einer Kettenreaktion vorstellten. 

Der 100. Berliner war ein Neugeborenes - wenige Tage alt.

In spielerischen Anordnungen beantworteten diese Stichprobe der Stadt Fragen. In immer neuen Konstellationen gaben sie statistischen Zahlen ihre Gesichter. Sichtbar wurden die Gruppe derer, die Kinder hatten, die Kinder wollten, die Arbeit suchten, die verschuldet waren, die ihr Geld für sich arbeiten ließen, die Waffen hatten und die aus bewaffneten Konflikten geflohen waren, diejenigen die schon mal im Gefängnis saßen und die, die für die Wiedereinführung der Todesstrafe waren.

Eine Stadt bildete sich ab: in ihrer Komplexität und Heterogenität, über die tiefen Gräben hinweg, die die einzelnen Menschen und Gruppierungen trennten. Berlin wirkte damals noch billiger als andere Städte, viele im Cast hatten noch einen Großteil ihres Lebens in der DDR gelebt. Der Flughafen Tempelhof war gerade erst geschlossen und der neue Flughafen BER schien kurz vor seiner Eröffnung.

Seither sind 12 Jahre vergangen - Zeit für eine Revision am Ort des Entstehens - für das theatrale und soziale Abenteuer einer Wiederbegegnung und Vergegenwärtigung, eine neue Bestandsaufnahme: Was, wenn wir noch einmal 100 statistisch ausgewählte Berliner*innen auf die Bühne holen, um zu verstehen, wie sich die Stadt seither verändert hat?

Wie haben sich in Berlin Mehrheiten verschoben, Profile verändert, Perspektiven gebrochen? 

Wie haben sich die statistischen, demographischen Werte der Stadt verändert? Welcher Bezirk ist geschrumpft, wo gibt es mehr Einwohner*innen, zugewandert von wo? Welche neuen Berufsbilder sind dazugekommen, wie ist die Wirtschaft in den Privathaushalten gewachsen? Wo gibt es Kummer? Verdrängung, Privatisierung, Neubaustau und Wachstumsangst, Uploadfilter, Terrorgefahr, dicke Dieselluft, Tourist*innenrummel, Zukunftsangst…

Aus dem Säugling von damals ist ein Teenager geworden. Wie blickt dieser junge Mensch heute auf die Stadt, in der er nun lebt und bald schon wählen darf…? Und was ist aus dem Statistiker geworden?

 

Konzept, Text, Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel 
Bühne: Mascha Mazur / Marc Jungreithmeier 
Recherche + Dramaturgie: Cornelius Puschke 
Live-Musik: Di Grine Kuzine 
Regieassistenz: Lisa Homburger 
Produktionsleitung: Juliane Männel 

Eine Produktion von Rimini Apparat in Koproduktion mit dem HAU Hebbel am Ufer Berlin, gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds.

 

Anlässlich einer sich rasant verändernden Stadt und im Rahmen des 20-jährigen Jubiläums von Rimini Protokoll.