Bodenprobe Kasachstan

Von Stefan Kaegi

Im 20. Jahrhundert wurden Menschen wie Erdölbarrels von einem Kontinent zum anderen verschickt. "Bodenprobe Kasachstan" macht sich mit dokumentarischen Mitteln auf die Suche nach Öl. Seit März 2010 castet Stefan Kaegi und sein Team Ich-Erzähler des Öls. Einige dieser Biographien lassen sich zu einer Kette verknüpfen, die den Pipelines entlang zurück unter die Erde von Kasachstan führen.
Mit dabei sind:

Heinrich Wiebe, der seine Familie im Deutschland des zweiten Weltkriegs verloren hat und in einem in einem Waisenhaus im kasachischen Semi-Palatinsk aufwuchs, wo während des kalten Kriegs über 400 Atombomben mit einer Sprengkraft von 2500 Hiroshimabomben getestet wurden, so dass die Bürger der Stadt heute früher pensioniert werden als im übrigen Land. Sein Leben lang fuhr Heinrich Wiebe mit dem Tanklastwagen Benzin aus der Raffinerie von Pavlodar an Tankstellen im ganzen Land – und sang dabei laut, um in der Monotonie der kasachischen Steppe nicht einzuschlafen.

Nurlan Dussali, ein gebürtiger Kasache aus Alma-Ata, vertreibt jetzt in Deutschland Solarzellen. Nach Deutschland kam er um hier Wirtschaft zu studieren und dann in München in seinem ersten Praktikum bei einer Trading Gesellschaft ganze Züge von kasachischem Erdöl übers Internet ein- und in Weißrussland wieder zu verkaufen - ohne sich die Hände schmutzig zu machen.

Ganz im Gegensatz zu Gerd Baumann – einem ostdeutschen Tiefbohringenieur, der nicht nur im Irak und in Texas sondern auch in den 80er Jahren in Kasachstan nach Erdöl gebohrt hat. Durch unterirdische Sprengungen haben er und seine Kollegen kontrollierte Migrationen von Erdöl ausgelöst, immer unter erhöhten Sicherheitsvorschriften und der Gefahr von eruptiven Gasaustritten – so genannten Blow Outs.

Helene Simkin hingegen schaute als Kind eher in den Himmel als unter die Erde. Sie wuchs in Kasachstan in der Nähe der russischen Raumstation Baikonur auf, wo sie Raketen im Himmel verschwinden und in die Steppe stürzen sah. Heute arbeitet sie in Hannover am Check-in Schalter einer russischen Fluglinie, die sie bald entlassen wird, wenn der Erdölpreis weiter steigt.

Elena Panibratowa ist nicht in Kasachstan, sondern in Tadschikistan während des Bürgerkriegs aufgewachsen. Kasachstan war für ihre Familie immer nur das reiche Nachbarland im Norden. 1994 konnte ihr Großvater die Familie nach Deutschland holen, wo sie nach einer Ausbildung zur Bankkauffrau und Kosmetikerin für Geld auf Bartresen tanzt und ihren russlanddeutschen Kollegen aus den Händen liest.

Kurz nachdem im 18. Jahrhundert Zehntausende von Deutschen dem Ruf von Katharina der Großen nach Russland gefolgt waren, wurde in Europa nach den ersten Ölquellen gesucht. Als Stalin während des 2.Weltkrieges Hunderttausende ihrer Nachkommen in die Steppen Zentralasiens deportierte, war Erdöl bereits weltweit zur Hauptenergiequelle geworden. Als Helmut Kohl Anfang der 90er Jahre eine Million Russlanddeutsche nach Deutschland holte, wurde in Westkasachstan eines der weltweit größten Ölfelder entdeckt.

Heute, zwanzig Jahre nach der großen Überfahrt sprechen noch längst nicht alle Russlanddeutschen in Vierteln wie Marzahn deutsch. In Kasachstan dagegen soll in zehn Jahren mehr Öl gefördert werden als in Kuwait vor dem Irakkrieg.
98 % aller Transporte weltweit werden direkt oder indirekt mit Erdöl betrieben.
Von Handcreme und Filzstift bis Waschmaschine und Spaceshuttle gibt es kaum ein Produkt, indem nicht irgendein Destillat aus Erdöl steckt. Und doch bleibt die dunkle, zähflüssige Masse unsicht- und greifbar.

In „Bodenprobe Kasachstan“ steigen 5 Performer über CinemaScope-Botschaften zurück in die beinahe vergessene kasachische Landschaft und begegnen ihren fernen Verwandten. So entsteht ein Theaterabend als Kasachstansimulation, in dem Menschen in russischer und deutscher Sprache die Routen der Steppe besingen: den Weg ihres Lebens, des Erdöls und der Macht.

Mit deutschen, englischen und russischen Untertiteln.


Mit:
ELENA PANIBRATOWA 
GERD BAUMANN 
HEINRICH WIEBE 
HELENE SIMKIN
NURLAN DUSSALI

Konzept & Regie: Stefan Kaegi (Rimini Protokoll)
Video Design: Chris Kondek
Musik: Christian Garcia
Bühnenbild: Aljoscha Begrich
Dramaturgie: Aljoscha Begrich, Juliane Männel
Lichtdesign: Sven Nichterlein
Produktionsleitung: Juliane Männel
Technische Leitung: Sven Nichterlein
Regieassistenz: Jessica Páez
Bühnenbildassistenz: Justus Saretz
Bühnenbildhospitanz: Maria Ebbinghaus
Übersetzung & Übertitel: Franziska Zwerg (dt./russ.), Amanda Crain (engl.)
Video Operator: Bodo Gottschalk
Sound Operator: Daniel Dorsch, Nikolas Neecke

Eine Produktion von Rimini Apparat und HAU / Hebbel am Ufer Berlin.
In Koproduktion mit dem Schauspiel Hannover, Wiener Festwochen, Goethe-Institut Almaty, Le Maillon - Théâtre de Strasbourg / Scène Européenne, Territory Festival 2011 und BIT Teatergarasjen. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds und durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten.