Das Leben ist doch ganz okay

Von Sylvia Staude

07.12.2015 / Frankfurter Rundschau

„Qualitätskontrolle“: Die gelähmte Maria-Cristina Hallwachs legt in einem Stück von Rimini Protokoll Zeugnis ab über ihr Leben. Jetzt auch im Mousonturm Frankfurt.

Ich war sehr fix in der motorischen Entwicklung“, erzählt Maria-Cristina Hallwachs, und: „Bewegung war immer mein Leben.“ Spät im Stück sieht man die kleine Maria-Cristina in einem verwackelten Filmchen, wie sie das Radfahren lernt, vielleicht auf dem Hof ihrer Eltern, und wie sie in einem Zuber badet. Wie sie umfällt, wie sie wieder aufsteht. Die Frau, die sie heute ist, 41 Jahre alt, sitzt im elektrischen Rollstuhl, ist seit bald 23 Jahren vom Hals abwärts gelähmt und braucht zum Atmen einen Zwerchfellstimulator (15 oder 16 Atemzüge pro Minute). Sie sagt: „Mit meinem Genickbruch war ich in der Klinik eine kleine Sensation.“ Weil sie es überlebt hatte.
Die Regisseursgruppe Rimini Protokoll, das sind Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, sind bekannt dafür, dass sie „Experten des Alltags“, darstellerische Laien also auf die Bühne bringen. Wer könnte mehr Experte für das Thema Behinderungen sein, als ein Mensch, der auf andere Menschen angewiesen ist, um auch nur einige Stunden (vier oder fünf, sagt Hallwachs) zu überleben.
Haug und Wetzel haben „Qualitätskontrolle“ konzipiert, aber die 100 Minuten, in denen Maria-Cristina Hallwachs in einem Theater – jetzt machte sie Station im Mousonturm – Zeugnis ablegt über ihr Leben (und am Rande auch über das ihrer geistig behinderten Schwester), werden getragen von ihrer Sachlichkeit, Gelassenheit, Wachheit.


Es war ein Kopfsprung
Die Bühne ist mit Kacheln umrandet wie ein Schwimmbecken, denn Hallwachs hat damals einen Kopfsprung auf der Nichtschwimmerseite eines Hotelbeckens gemacht, es war dort 50 Zentimeter flach. Im Krankenhaus in Deutschland hat man irgendwann die Entscheidung ihr überlassen, ob sie weiterleben will. Sie wollte, es war für sie keine Frage. „Ich denke immer, das Leben ist doch ganz okay, oder?“
Eine Frau des Pflegepersonals, die Ungarin Timea Mihályi, steht mit auf der Bühne. Sie führt die Bewegungen aus, um die Hallwachs sie bittet, sie saugt ihr einmal Schleim aus dem Hals, weil auch ein Räuspern und Abhusten nicht möglich sind, sie schießt mit ihr auf Tore – der Chancengleichheit wegen trägt Mihályi eine Augenbinde, Blindheit gegen Unbeweglichkeit –, sie spielt mit ihr „Grafeneck-Memory“. In Grafeneck wurden unter den Nationalsozialisten tausende Behinderte ermordet, man nannte es Mitleid. Auf Plakaten wurde vorgerechnet, wie viel das „lebensunwerte“ Leben das Volk kostete. Auf den Schultern eines gezeichneten arischen Recken saßen zwei krumme Männlein. Auch Maria-Cristina Hallwachs rechnet: Eine Stunde ihrer Pflege koste so viel wie ein Olivenbäumchen im Gartencenter, das ungefähr so groß ist wie sie. Seit ihrem Unfall ist sie bei mehr als 97 000 Stunden angekommen.
Gegen Ende geht es noch um Pränataldiagnostik und die Möglichkeit, behinderte Kinder bereits im Mutterleib auszusortieren. Da glaubten Helgard Haug und Daniel Wetzel vielleicht, es nicht beim persönlichen Schicksal belassen zu können, von dem vorher doch aber beeindruckender berichtet wurde.