Geniale Menschenfänger

Die deutsch-schweizeriche Regie-Gruppe "Rimini Protokoll" erneuert das Theater mit Laien und wird dafür überall gefeiert

Von Tom Mustroph

05.07.2007 / Die Welt

Das Theater hat wieder Stars. Nachdem die Kraft der Berserkerregisseure aufgebraucht ist, zerrt nun ein mit realen Menschen an der Berührungsfläche von Theater und Wirklichkeit operierendes Regiekollektiv den Karren voran. "Rimini Protokoll" heimsen Bewunderung, Preise und Trophäen ein wie einst Peter Stein und Frank Castorf. Ob Theatertreffen oder Mülheimer Dramatikerpreis, Festival des Politischen Theaters oder Impulse-Festival - im Staatstheater wie im Edel-Off hinterlässt das deutsch-schweizer Trio Spuren.

Anders als die in ihren besten Zeiten an ein Haus gebundenen, sich mit einem Ensemble reibenden und gemeinsam über sich hinauswachsenden Leitwölfe Stein und Castorf vagabundieren die Riminis über Theater, Festivals und Kontinente. Gerade noch mit einer Recherche über die Umstände der Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" in Zürich beschäftigt, erkundet "Rimini Protokoll" nun die Ausbildungsstätten brasilianischer Polizisten und lässt zeitgleich bulgarische Trucker im Panorama-LKW Realitätsvoyeure über Europas Straßen kutschieren.

Hinter dem rätselhaften Namen verbergen sich drei sympathische, zurückhaltende Mitt- bis Enddreißiger. Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel haben sich als Theaterwissenschafts-Studenten in Gießen, einem legendären Erneuerungslabor, kennen gelernt. Im Jahre 2000 gründeten sie die gemeinsame Plattform "Rimini Protokoll". In ihr realisieren sie Dreier-, Zweier- und auch Soloprojekte.

Der Name geht auf eine Spielerei zurück. "Wir wollten so etwas wie ,Kyoto-Vertrag' oder ,Genua-Gipfel', eine Stadt mit einem Begriff verbunden. ,Protokoll' war uns wichtig, weil wir unsere Arbeit so verstehen: Wir protokollieren ein Ereignis und setzen es dann nach den Regeln eines Protokolls in Szene.", erklärt Helgard Haug.

Das dreisilbige Rimini klang einfach gut. Zum Zeitpunkt der Namensgebung wussten die drei noch nichts von dem Vertrag über die Quotierung der Erdölförderung, der gleichfalls Rimini Protokoll heißt. "Ein schöner Zufall. Ein Dokument über Ressourcenknappheit passt natürlich gut zu uns, aber wir kannten das damals tatsächlich noch nicht.", räumt Helgard Haug mit dem Mythos um die clevere Namensgebung auf.

Eine typische Handlungsweise übrigens. Während Intendanten, Kuratoren und Kritiker in Superlativen schwelgen, bewahren sich die, denen die Kränze geflochten werden, eine fast schon sture Bedachtheit. Haug, Kaegi und Wetzel wollen arbeiten. Sie freuen sich über die Anerkennung und die damit verbundenen guten Arbeitsbedingungen, doch was ihnen den meisten Spaß bereitet, sind ihre Projekte.

"Wir wollen die Welt verändern, indem wir sie begreifen und abbilden." Leise setzt Helgard Haug die gewichtigen Worte.

Man darf sicher sein, dass sie weiß, wovon sie spricht. Im November letzten Jahres wuchtete sie mit Daniel Wetzel und einem knappen Dutzend Marx-Kennern und "Kapital"-Erfahrenen "Karl Marx: Das Kapital, Band Eins" auf die Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses. Vor wenigen Wochen bekamen sie für ihre Stückfassung des dicken Wälzers den renommierten Mülheimer Theaterpreis. Die Ehrung ist ein Fehlgriff für jene, die ein Drama als etwas begreifen, das von einem Autor für die Bühne verfertigt wurde, das abgeschlossen ist und so universell, dass es von den Schauspielensembles aller Welt aufgeführt werden kann. Doch dieses "Kapital"-Kapitel wurde von seinen Protagonisten geschrieben und immer wieder verändert. Die Aufführung bezieht ihre Kraft aus der Intelligenz der acht Spieler und der Energie des Zusammentreffens dieser Individuen.

Wenn ein aus der DDR stammender echter Wirtschaftshistoriker Anekdoten aus der Editionsgeschichte des "Kapitals" erzählt, eine Jelzin-Übersetzerin davon berichtet, dass sie für ihre Arbeit an dem Werk des "roten Zaren" erstmals einen Dispokredit von ihrer Bank erhielt, ein Unternehmensberater an Geldverbrennungsaktionen in linken Studententagen erinnert und ein blinder Marx-Leser und Call-Center-Agent zu jedem Stichwort den passenden Soundtrack aus seiner Plattensammlung einspielt, dann sind alle diese Episoden elementar an den jeweiligen Akteur gebunden. Eine Übertragung auf trainierte professionelle Schauspielermünder und Schauspielerkörper ist nur als minderwertige Kopie vorstellbar.

Für die Befürworter indes signalisiert der Mülheimer Preis eine Wende. Denn klassische Dramen arbeiten mit einem begrenzten Arsenal erfundener Figuren und einer endlichen Zahl von Beziehungen zwischen ihnen. Der Konflikt im Stück soll dann gleichermaßen überraschend, furchtbar und kulturell bedeutsam sein, so dass seine Lösung Erkenntnis, Triebabfuhr oder gar Reinigung bewirken könnte. Das wirkt angesichts der komplexen Wechselwirkungen in einer sich rasend verändernden Welt oft hoffnungslos altbacken.

"Rimini Protokoll" sind nicht die Ersten und nicht die Einzigen, die dieser Krise durch das Einschleusen der Realität ins Theater begegnen wollen. Dokumentarformate sind im Aufwind. Stücke werden aus Interviews gebaut. Regisseure greifen wegen der erhofften Authentizität zunehmend auf Laiendarsteller zurück. Über die Laien - häufig selbst keine Theatergänger - lassen sich theaterfernere Schichten erschließen. Denen kommt das abwertende Argument gegenüber den Mimen abhanden. Das alte "Das kann ich auch, und die kriegen sogar noch Geld dafür" kehrt sich sogar um in einen Respekt für den Nichtprofi auf der Bühne, in ein Einfühlen in seine Situation. Über die Qualität dieser Art von Rezeption kann man streiten. Fakt ist: Sie existiert und ist auch in anderen Genres verbreitet.

In der Welt des Theaters sind die Riminis die besten, die produktivsten und die schnellsten Realitätskopierer. Ihre Produktionen decken eine ungeheure thematische Breite ab. Sie haben zu Tod und Bestattungswesen gearbeitet, zu den Reizen und Schwierigkeiten der Luftfahrt. Globalisierung wird sinnfällig in einem Stück mit Call-Center-Angestellten im indischen Kalkutta. Auch vor Herztranspantation und Liebesschmerz, Wiener Diplomatie und lettischer Bürokratie, Entschleunigung und Formel 1 scheuten sie nicht zurück. Die Fähigkeit, sich in solch unterschiedliche Bereiche einzuarbeiten, nötigt Respekt ab.

Die größte Qualität der Realitätsmaschine "Rimini Protokoll" liegt jedoch in der Menschenfängerei. Immer wieder gelingt es den Regisseuren und ihren Rechercheuren, Personen zu finden, die unverwechselbar sind, die eine Geschichte zu erzählen haben und auch fähig sind, dies vor Publikum zu tun. Zur bislang höchsten Vollendung kam dieses Prinzip ausgerechnet bei der Umsetzung eines klassischen Theatertextes. Schillers "Wallenstein" wurde u. a. von amerikanischen Vietnamkriegsveteranen, einem gemobbten, später wieder erfolgreichen Ex-Volkspolizisten, einer modernen Kupplerin und einem an der Kommunalpolitik gestählten Parlamentarier aufgeführt.

Ob "Rimini Protokoll" die Welt verändern kann, ist ungewiss. Auf ihrem Weg hat die Gruppe immerhin schon das Theater erneuert.