I try to speak about reality

Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel im Gespräch mit Patrice Blaser in Wien, Januar 2004

Von Patrice Blaser

29.01.2004 / Wien, Januar 2004

"I try to speak about reality".

Patrice: Mir ist ein Satz aufgefallen, der mir für eure Arbeit gut gefällt, den ich charakteristisch finde. Der Priester, den Ihr bei Eurer Midnight Special Agency in Brüssel eingeladen habt, sich mit einem Satz vorzustellen, sagt: "I try to speak about reality". Gerade der Priester versucht also - vom Glauben - als Realität zu sprechen. Genau so könnte das wahrscheinlich auch jeder von euch sagen. Woher kommt denn diese Sucht danach, Realität zu zeigen?

Helgard: Der Hintergrund für den Satz des Priesters ist ja, dass er seine Kirche, die er nutzen könnte, um seine Inhalte abstrakt an die Gemeinde weiterzugeben, dass er diesen Raum über 2 Jahre ganz konkret genutzt hat, um etwa 250 Sans-Papiers zu beherbergen. Er hat nicht nur über Realität gesprochen, er hat Realität auch ganz konkret in diesen Raum geholt. Natürlich kannst du predigen oder du kannst Stücke aufführen, in denen es um inhaltliche, beispielhafte Schärfen geht und das ist auf einer Ebene hilfreich und gut - und du kannst auf der anderen Seite versuchen, das konkreter an Menschen zu binden und konkreter auf die Realität einzuwirken, und die Realität als ein Sprengstoff in einen solchen Raum zu holen.

Stefan: Wir sitzen hier im Kasino in Wien, in einer Dependance des Burgtheaters. Wenn man schaut, wie dick die Wände hier sind, wieviele Ornamente an der Decke hängen, dann ist das ja auch wie eine Kirche ein höchst repräsentativer Raum, der Menschen tröstet...

Helgard: ...bereichert...

Stefan: ...sie wiedergibt. Aber diese Orte können auch benützt werden als eine Art Sockel für Dinge und Menschen, die man nicht mehr gewohnt ist, wahrzunehmen.

Patrice: Würde ich auch so sehen, aber Ihr wollt ja nicht Trost spenden, sondern Euer Interesse an der Realität ist ja ein tiefes Misstrauen gegenüber der Realität, nämlich dass das, was sich als Realität abbildet, unmöglich alles sein kann. Wenn man wie bei Eurer Produktion Sonde Hannover aus einem Turm in der Stadt, aus dem 10. Stockwerk, in die Stadt blickt, die Stadt sich einem als Kulisse darbietet während über Kopfhörer der Blick geleitet wird, sich gewissermassen ein zweiter, akustischer Raum darüberlegt, hält man das, was man sieht immer für Wirklichkeit. Zunächst mal. Bald merkt man dann möglicherweise - an der einen oder anderen Stelle, dass das wahrscheinlich nicht ganz so ist, wie man denkt. Man bekommt das Gefühl, dass mit dieser präzisen Blickführung hier auf etwas aufmerksam gemacht werden soll, das hinter der Oberfläche verborgen liegt. Bei Sonde Hannover ist v.a. der Betrachter in einer theatralen Situation und schon dadurch wird die Realität ganz anders wahrgenommen.

Helgard: Die Realität wird vor allem verdichtet. Wenn man überlegt, was ist denn das Brutale an der Sonde-Hannover-Versuchsanordnung, dann ist es doch die Nähe, die der Betrachter durch sein Vergrößerungsglas und den Abhörvorgang zu einem wildfremden Passanten aufnimmt – ohne dass dieser davon weiß. Oder wie ernsthaft und beharrlich kann ich – zum Beispiel bei Deadline - die Frage verfolgen, was ist mit diesem Menschen, wenn er stirbt?

Daniel: Gleichzeitig ist bei Sonde Hannover ein Teil des Blickangebots, sich eine gewisse Realität von Perspektive anzuschauen und einzuverleiben, eine Perspektive, die technisch gebrochen ist: Du bist oben und blickst herab – eine der ganz frühen Innovationen im Überwachungsstaat. Die Städte waren ja eingezäunt von Mauern und boten nicht nur Schutz, sondern Überblick in beide Richtungen, die Straßenführung war blickführend an den Turmposten ausgerichtet. Die zweite technische Brechung ist ja das Fernglas – dass, wovon du dich entfernt hast, du durch so ein Fernglas wieder heranholst. Eine der ersten Beobachtungen beim Erarbeiten von Sonde Hannover war, dass der Blick durch das Fernglas Menschen suspekt macht, und das ist vielleicht eine Form negativer Theatralisierung. Es ist die Art wie man durch das Glas schaut, die ihn verdächtig macht. Da ist die eine architektonische Distanz zu der Person, durch den Turm, die wird irgendwie technisch aufgehoben durch das Glas, und man selber bekommt eine Blickmacht und fängt dann an, zu fabulieren. Das ist die Perspektive der Überwachungskamera. Es machte ja auch allen Spaß, zu spannen, Voyeur zu sein, und zu wissen, die sehen mich jetzt dabei nicht.

Patrice: Auf der einen Seite der panoptische Blick [], auf der anderen Seite diese Lust am "göttlichen" Blick. [] Der Mensch hat sich immer gewünscht, aus der Vogelperspektive auf die Welt runter zuschauen. Was ist denn für euch so interessant, den Blick der Menschen so sehr auf die Wirklichkeit zu lenken?

Stefan: Ein wichtiger Punkt ist, dass wir kaum mit Schauspielern arbeiten. Dadurch gibt es in vielen unserer Projekte die Möglichkeit, dass der Zuschauer das Gefühl haben kann, dass er das, was er entdeckt, selber entdeckt. Er nimmt natürlich wahr, dass wir das Setting gewählt haben, indem wir die Performer oder das Fenster ausgewählt haben. Aber während die Stimme deinen Blick auf die Zahnarztpraxis im dritten Stock gegenüber richtet, wo gerade ein Zahn operiert wird, hast du immer auch die Möglichkeit, in einem anderen Fenster etwas ganz anderes zu entdecken.

Patrice: Man könnte doch auch sagen im Hinblick auf die Projekte, die im Theaterraum stattfinden es gehe darum, auf andere Aspekte der Wirklichkeit aufmerksam zu machen, die man ausstellt. Mit Aby Warburg gesprochen: geht es vielleicht darum, zu den verborgenen Schatzkammern der seelischen Dokumente vorzustoßen. Indem man plötzlich etwas entdeckt, was zwar immer da ist, was aber nicht übersehen wird, unbemerkt bleibt im Alltag, und nun durch diesen besonderen Blick, den man hat, wenn man in einer Kunstsituation schaut, erst sichtbar gemacht wird.

Stefan:Unsere Performer stehen auf der Bühne, weil sie - als Trauerredner, Krematoriumserfinder oder Anwälte - etwas zu sagen haben und nicht, weil sie ihre Schauspielerkarriere, die Gage oder der Narzissmus auf die Bühne treibt. Sie wollen nicht zeigen, wie gut sie etwas können, sondern WAS sie können und wissen. So bleibt einem als Zuschauer immer die Freiheit, an diesen Menschen, die sich vor einem ausbreiten, selbst noch etwas zu entdecken.

Patrice: ...wobei Sonde Hannover eher eine Art von Eröffnung - im Lehmannschen Sinne - bedeutet, wo auch das Unvorhersehbare passiert. Bei Deadline ist es eher, indem die wirklichen Personen auf die Bühne transportiert werden, mit allen Problemen, die das dann bedeuten kann, da ist es eher eine Art Inszenierung, die auch zu einem gewissen Grad unwahr ist.

Hinter den Fassaden der Wirklichkeit gibt es noch andere Wirklichkeiten. Die Stadt wurde über das technische Sehen - über die Fotografie, den Film - immer schon neu gesehen. Die Beschleunigung des Lebens, die man erfahren hat Anfang des 20. Jahrhunderts wurde durch die technischen Bildmedien die flüchtige Welt entweder wiederholbar erlebbar gemacht oder durch die Fotografie eingefroren, stillgestellt und auf diese Weise lesbar gemacht.

Helgard: Anders herum war aber gerade ein faszinierender Punkt bei dem Stück in Hannover, dass es in der Realität ja auch Wiederholung gibt, dass sich der Platz ganz von alleine täglich inszeniert, die Frau die gestern mit ihrer Einkaufstasche von links nach rechts gegangen ist hat heute vielleicht braune Haare und morgen ist sie eben blond lockig, aber ihre Rolle ist sehr ähnlich besetzt.

Patrice: Trotzdem [] bekommt hier das Unvorhergesehene einen sehr großen Rahmen, während in Deadline das Korsett sehr viel enger geschnürt ist, also dem Unvorhergesehenen fast gar kein Raum bleibt.

Stefan: Es gibt schon unberechenbare Faktoren. Die Versuchsanordnung auf der Bühne hat für den Zuschauer noch eine Offenheit, die mit Schauspielern schwierig zu erarbeiten wäre. Das Publikum sieht erstmal 4-6 Biographien. Warum sie diese Haltung zum Tod zum Beispiel entwickelt haben, hat immer noch einen großen Grad von Fragezeichen...

Daniel: Man kann dieses Theater auch als eine Blackbox im Sinne von einem Flugschreiber beschreiben: Eine Blackbox ist etwas, in das du etwas reintust, hinten kommt etwas heraus, aber was da drinnen passiert, wie der Output zustande kommt, das weißt du nicht. Gleichermaßen tun wir in so ein Stück Sachen rein, die wir nach protokollarischen Regeln entwickeln mit den Leuten zusammen. Es geht aber nicht darum, den Output zu definieren, uns geht es um’s Protokoll, was ja eine Vorschrift und eine Mitschrift ist (im digitalen Fall eine Mitschrift nach Vorschrift). Wenn die Teilnehmer uns bei den Proben fragen, was die Botschaft des Stücks sein solle, dann gucken wir meistens bewusst dämlich und lange und sagen nichts oder wir sagen, dass es geöffnet bleiben wird. In diesem Sinne ist die Blackbox ein Zustand der die Theaterkonstellation aus Zuschauerraum und Bühne produktiv macht, dass du Linien, Verschränkungen protokollierst und programmierst, aber nicht den Output. Diese Leute kommen ja alle mit ihrem eigenen Text...

Patrice: Also hier werden Menschen im Produktionsprozess - auch gerade was ihren Text angeht - sehr stark eingebunden indem die im Grunde genommen ihr Leben erzählen. Da ist für mich die Verbindung zu einem Projekt wie Sonde Hannover, dass nämlich über das Erzählen der Leute sich offenbar mehr zeigt, als das, was Ihr alleine zu denken vermögt. Also ohne dass sie das wollen, zeigt sich etwas - analog zu Hannover, wo sich bei den Passanten mehr zeigt als Ihr euch ausdenkt als ‚Schöpfer’. Ihr seid eher so Sucher – Finder möglicherweise - und setzt es irgendwie zusammen dann. Wie lassen sich denn diese Personen auf die Bühne bringen, ohne dass sie anfangen, zu spielen. Wie funktioniert dieser Transformationsprozess von Wirklichkeit, oder von Realitätspartikeln auf die Bühne, ohne dass sich da zu viel verändert?

Daniel: Eine Parallele zwischen Sonde Hannover und Deadline ist, dass die Versuchsanordnung das beobachtete Objekt sehr stark verändert, aber nicht substantiell. Das würden Physiker wahrscheinlich auch sagen, sonst wären ihre Versuche nur selbstreferentiell. Wenn du mit einer dieser fünf Personen ganz privat auf diese Bühne steigst - das geht technisch, weil keine Zuschauer da sind, weil das Arbeitslicht an ist, weil noch keine Probe ist und man hat sich schon vorher getroffen - dann ist ganz viel von dieser drohenden Verkrampfung, sich irgendwie bühnentechnisch zu verhalten, überhaupt nicht da. Man kann auf diesem Brett tatsächlich ganz ‚normal’ sein. Dann aber, schon wenn die Zuschauer drin sind, oder schon mit dem Signal der Probe, wenn das Licht an ist, dann entsteht dieses Problem der Selbstrepräsentation. Wie wenn du vor einer Kamera sitzt und es wird ein Portrait von dir gemacht und du merkst: Plötzlich bist du nicht mehr wie vor zwei Minuten, wenn dieser Fotograf hinter diesem schwarzen Ding hampelt. Du beginnst, dich nochmal zu erfinden. Und diese leichte Verschiebung gibt es nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Blick des Beobachters bei Sonde Hannover – nur ist in dem Fall der Akteur unten auf der Straße sehr viel weniger betroffen, er weiß nichts davon - du als derjenige der schaut, bist sehr viel mehr damit konfrontiert, dass du das was da unten passiert veränderst, dadurch dass du blickst.

Patrice: Also es gibt auch eine Verschiebung, wenn man sich selber spielt?

Daniel: Ja, es gibt diese Transformation...

Helgard: ...weil du den Zuschauer mitdenkst....

Daniel: ...das Publikum ist eine Mega-Kamera mit vielen Augen.

Patrice: Ist es nicht dasselbe, wenn ich über mich rede einfach so oder wenn ich auf der Bühne von mir rede?

Helgard und Daniel: Das ist nicht dasselbe.

Patrice: Was sagt das über Theater?

Daniel: Wir haben für die Produktion Zeugen! auch mit Schauspielern gearbeitet. Sie sollten bei Proben auf der Bühne von sich berichten: Sie hatten recherchiert, Prozesse beobachtet in Strafgerichten, traten auf die Bühne und wollten sagen, was sie da gesehen und erlebt haben. Das Verrückte ist, dass diese Leute, die sich Schauspieltechniken angeeignet haben nicht mehr in der Lage sind, so zu wirken auf der Bühne, dass du ihnen das was sie sagen ähnlich glaubst! Du hältst es sofort für Literatur! Und sie leiden auch darunter. Du hältst es für einen Text von Kleist. Die beiden haben gemerkt, dass dann eigentlich erstmal gegen alles, was sie trainiert haben, arbeiten müssten. Und insofern glaube ich schon, dass das was jetzt ein Bürgermeister wie Hans-Dieter Ilgner bei Deadline über sich sagt, sehr viel näher dran ist, du dieses "ich", was er zu sich sagt, eigentlich schon für das Seinige hältst, im Gegensatz zu einem Schauspieler. Dieses "Ich" ist für uns die Stärkere der Theater-Fiktionen und für mich die Theatralere. Wenn unsere Darsteller schon Theatererfahrung haben, ist das eher ein Handycap. Wir organisieren die Stücke so, dass sie darauf möglichst so bestehen können, dass sie nicht komplett verbogen werden vom Medium. Sonst wären es eben doch Laien und nicht die Experten, denen wir Raum geben wollen.

Helgard: Um unsere Arbeitsweise zu beschreiben, sagen wir oft "stellen Sie es sich wie ein Dokumentarfilm vor..." - dann sagen alle Leute "Aha" - "...aber nicht auf der Leinwand, sondern auf der Bühne". Und das ist natürlich absurd, weil man sich beim Dokumentarfilm so ein Team vorstellt, das sich ganz im Hintergrund hält und eben fast unmerklich die Realität abschöpft um dann damit ins Studio zu eilen und auf ein paar Minuten zusammen zu schneiden. Wir müssen es nach dem ‚Abschöpfen’ mit den Betreffenden zusammen, in eine Form bringen, die wiederholbar ist, die aber möglichst nichts an ihrem Leben oder an ihrem Grad an Realität verliert.

Stefan: Natürlich spielen die Leute auf der Bühne jetzt nicht, dass sie über den Kröpcke-Platz in Hannover gehen und ihnen niemand dabei zusieht. Das sind alles Menschen die schon in ihrem eigenen Leben "auftreten". Sie sind eine Art Pressesprecher ihrer selbst. Wir suchen ja immer Formen von Leben, die einen gewissen Aufführungsgehalt haben: Eine Bestattungsfeier, ein Gerichtsprozess, eine Bundestagssitzung...

Patrice: Die jüngeren Dokumentarfilmtheorien behaupten ja, dass es gar keinen Unterschied gibt zwischen Dokumentar- und fiktionalem Film. Es gibt eine vor-filmische Realität, die filmisch nicht zu haben ist. Und deshalb ist das was als Realität mit dem Medium vermittelt wird immer eine konstruierte Realität, so authentisch die dann möglicherweise im Gestus daherkommt.[]

Helgard: Es gibt nicht nur eine vor-filmische Realität, sondern es gibt wahrscheinlich so etwas wie eine ‚vor-bezeugte’ Realität, weil es ist ja letztendlich egal, ob ich mit Kamera und Mikrophon da sitze oder ob ich als Zuschauerin einer Situation gegenübertrete. Also, dass du, wenn du beobachtet wirst, mitdenkst, was der sieht der dich beobachtet - egal ob er es auf ein Medium aufspielt wird oder nicht – das verändert dein Sein. Natürlich guckst du durch die Augen des Betrachters und fragst dich, was der sieht.


Daniel: Ich bin Fan von dem Bartheschen Moment, dass an einem bestimmten Punkt etwas das Medium durchsengt: Dass dich an Bildern, obwohl sie noch so technisch sind, etwas erwischt, an dem du andockst, wo etwas sozusagen theatral berührt – ein punctum. Ob das jetzt "authentisch" ist oder nicht, ist mir egal. Diese "Authentizitäts"-Debatte hat eigentlich mehr als zwei Krücken, auf denen sie humpelt, weil sie versucht, etwas immer wieder brauchbar zu reden, was einfach sehr weit weg ist. Es gibt sehr oft Zuschauer, die entscheiden sich an einem Punkt, das was ihnen von unseren sogenannten ‚echten Menschen’ erzählt wird für komplett fiktional zu halten - gerade auch bei Zeugen!, wo die Schauspielerin Franziska Henschel verdeckt, einen ‚echten Menschen’, die Gerichtszeichnerin Constanza Schargan, spielt. Gleichzeitig gibt es aber irgendetwas, was diese Geschichten interessant macht, nicht als gut gebauter Plot, sondern irgendetwas daran fängt man an, zu glauben oder man will etwas einfach wissen, es interessiert einen tatsächlich referenziell – und da ist das Dokumentarische im Sinn von einem Zeugnis, was darauf verweist, wie etwas an einem anderen Ort funktioniert oder sich ereignet hat.

Stefan: Im Theater setzt so ein Denkapparat ein, dass du nachdenkst: wie haben die sich gemeinsam darauf geeinigt, dass die Menschen da vorne bereit sind, zu sich selber - oder zu etwas, was gar nicht sie selber sind - auf diese Weise "ich" zu sagen. Da steht jemand mit einem "Ich" an der Bühnenrampe, wofür er nicht als Schauspieler bezahlt ist. Da bist du als Zuschauer in einer Verantwortung, die du vor der Mattscheibe nie haben wirst. Es greift dich persönlich an, wenn die Krankenschwester auf der Bühne erzählt, dass sie schon bis in alle Details überlegt hat, wie sie nach ihrem Ableben einmal aussehen will...

Patrice: Aber inwiefern muss ich wissen, dass es die Krankenschwester ist, um zu wissen, dass sie nicht als Darstellerin, also nicht ästhetisch agiert?

Daniel: Aber...

Stefan: Das wäre ja..

Helgard: Aber heißt das denn, du...

Patrice: Im Theater erwartet man, dass die ästhetisch agieren. Wie kann man das unterlaufen, dass man den Zuschauer dazu bringt, das nicht ästhetisch zu lesen? Irgendjemand könnte sagen, das sind ja nur geniale Schauspieler, die einfach so wahnsinnig auf Understatement machen...

Helgard: Das müssten ja unglaublich gute Schauspieler sein...

Patrice: Angenommen die gäbe es: Wo wäre denn da die Verschiebung? Ihr geht ja davon aus, dass sich Wirklichkeit auf die Bühne bringen lässt, und auch als solche erkannt wird.

Stefan: Warum sollten wir solche Schauspieler suchen, wenn wir doch die Menschen haben, die uns die Geschichte erzählen? Was uns weg von den Schauspielern bringt ist doch, dass sie uns nie auf solche Geschichten bringen würden...

Helgard: Es bringt uns gar nicht nur weg, es bringt uns gar nicht erst hin.

Patrice: ...das könntet ihr euch gar nie ausdenken, was ihr durch eure Darsteller erfahrt.

Stefan: Man könnte vielleicht alles recherchieren, dann ein Stück schreiben und es mit Darstellern inszenieren - aber warum sollte man’s tun?

Stefan: Man könnte vielleicht alles recherchieren, dann ein Stück schreiben und es mit Darstellern inszenieren - aber warum sollte man’s tun?

Helgard: Es bleibt dahinter zurück.

Stefan: Nur weil der Schauspielausbildungsapparat so viele Darsteller jährlich produziert, muss man die doch nicht beschäftigen, um anderer Leute Geschichten zu erzählen, wenn diese das selber können...

Helgard: ...und wollen. Alida - die Vorpräparandin in Humanmedizin aus Deadline - hat einmal in einer Diskussion ein großes Befremden empfunden, weil sie sich gefragt hat: Warum soll sie denn diesen Menschen, die sie kaum sieht, weil sie die Scheinwerfer blenden, warum soll sie denen ihre Geschichte erzählen? Aber dann gab’s dafür dann doch wieder Gründe, weil sie auch etwas davon hat, darüber öffentlich nachzudenken.

Daniel: Der Blick, den du bringst, wenn du dich ins Theater setzt, der ist so geformt, dass du mit deiner Erwartungshaltung ganz viel kompensierst. Unsere Arbeit nutzt ein Medium, das die letzten Jahrhunderte auf Repräsentation angelegt war. Theater ist genuin ein Ort, wo der, der da "ich" sagt, genuin nicht die Person meint, die in der Garderobe gesessen hat. Und dann gab es die Performance, die musste erstmal alles was theatral war, abschaffen, um dieses "Ich" da wieder zusammenzukriegen, mit dieser Person die da etwas tut, das war wichtig für uns.

Patrice: Bei Deadline gibt es ja auch sehr inszenierte Dinge: Der Auftritt des Friedhofssängers, der in der Wien-Version bei jedem Umbau von neuem begrüßt wird... das verwischt zum Beispiel in gewisser Weise, dass die sich selber sind und nichts spielen...

Daniel: ...das ist ja immer latent vorhanden, und die Frage ist, wie geht man damit um? Wie macht man das brauchbar, um es lesbar zu machen in einem Theaterraum? Es ist ja inszeniert!

Stefan: Zumal er ja davon erzählt, dass er sich bei Trauerfeiern hinter die Leute setzt und ihnen in den Rücken singt, als wäre er eine CD – in Österreich, wo CDs in Trauerfeiern eigentlich unzulässig sind. Und er selber ist dieser leicht stacksige, ungeschickte Chor-Leiter-Typ, der sich an den Trauerfeiern gemäßigt und pietätsvoll aufführt, um die Projektionsfläche für die Trauer anderer zu spielen: Mit seiner seltsamen Weise, dazustehen mit der Hand in der Tasche und traurig zu gucken. Das ist gespielt! Aber die meisten Leute sprechen nach dem Stück über den Tod: They speak about reality. Und nicht darüber, how to make this reality’.

Patrice: ...Deshalb habe ich nach dem Stück gestern auch nicht vor allem über die formalen Aspekte gesprochen sondern vielmehr über den Tod und über das, was Ihr an Fakten auftischt. Es wird einem da wirklich ein Spiegel vorgehalten, weil uns der eigene Umgang mit dem Sterben und dem Tod vorgeführt wird, und dass es mit dem Tod noch lange nicht vorbei ist, wenn ich an diese Dioxine in unserer Asche denke...

Daniel: ...daran, dass wir Giftmüll sind. Wir benutzen ja das Theater für etwas, das mehr Sinn macht als die "Penthesilea" Nummer 98, auch wenn die vielleicht ihre Daseinsberechtigung hat – wir wollen sie nicht machen. Vielleicht ist eben ein Nutzen, etwas, das in unserer Lebenswelt ständig passiert, zugänglich machen, und die Bühne macht es befremdlich und man schaut ihr auch dabei zu.

Patrice: Das ist es eben: Das Theater ist ein semantischer Raum, in ihm wird alles zum Zeichen.

Daniel: Jaja, das geht gar nicht anders.

Patrice: Nicht, das geht gar nicht anders...

Daniel: Wenn das Licht ausgeht auf der Bühne ist alles Zeichen, oder sobald es angeht auf der Bühne ist alles Zeichen, eben gerade auch dann, wenn einer auf der Bühne umfällt und tatsächlich in Ohnmacht gefallen ist. Wir haben schon öfter überlegt: Kann man das messen, den Zeitintervall, den das Publikum braucht, um umzuschalten von der Theater-Wirklichkeit, etwas gezeigt zu bekommen, auf die Wirklichkeit, dass dieser Zeichenraum, dieses Als-Ob, dieses Zeigen durchbrochen worden ist, davon dass da einer tatsächlich gestorben ist, umgefallen ist, ohnmächtig geworden oder so. Stefan hat neulich wieder so eine Situation erlebt, bei der eine Frau auf der Bühne in Ohnmacht gefallen ist, da waren es, glaube ich, 2 Minuten, die Du geschätzt hast.

Stefan: Nein, weniger. Es waren 15 Sekunden oder so was, bis die Zuschauer reagiert haben, bis für uns der Film riss. Das ist dann aber wieder gekippt, weil die Inspizientin sehr schnell aufgetreten ist und gesagt hat: Ihr kriegt Eure Eintrittskarten zurück. Und das so schnell und so hysterisch, dass ein Teil der Zuschauer wiederum dachte, alles sei doch Teil des Stücks gewesen.

Aber das Theater beginnt ja schon viel früher, bei unseren Recherchen. Heute waren wir hier in Wien bei der OPEC für unser neues Stück recherchieren: Wir haben mit einem Pressesprecher über das Theater seiner Diplomatie diskutiert - und haben uns gegenseitig interessiert und befremdet angestarrt - ohne genau zu verstehen, was der eine vom andern denkt.

Patrice: Ihr betreibt eine Art Spurensicherungen von Spuren, die man eigentlich kaum sieht und die erst dadurch sichtbar werden. Ihr holt sie gewissermaßen im Groys’schen Sinne ins Archiv. Wenn man das Theater als ein Archiv kultureller Werte betrachtet, wird etwas erst dadurch, dass man es dem profanen Raum entreißt, sichtbar gemacht. Und tatsächlich schaut man dann nach so einem Abend anders - zum Beispiel aufs Sterben.

Für Eure Arbeiten wurde immer wieder der Begriff des "Theater-Ready-Mades" strapaziert. Das Interessante am Ready-Made ist doch, dass es bekannten Dingen eine andere Bedeutung entreißt. Diese wird irgendwie "überscharf". Man hat auch mit der Fotografie der 20er Jahre festgestellt, dass das Unheimlichste das Reale ist. Es gibt eine Art von Übergenauigkeit. Je unverstellter, je unvermittelter Realität sichtbar gemacht wird, desto surrealer und übernatürlicher und unheimlicher wirkt sie. Und das ist der Effekt, der einem regelmäßig beschleicht bei euren Stücken. Dass das, was man sieht einem total in die Glieder fährt und es unheimlich wird.

Daniel: Bei Deutschland 2 gab es sowas wie ein Ready Made. Das Projekt bestand darin, dass der Text in dem Fall vorgegeben war, Wort für Wort, aber erst im Moment simultan am Original-Ort in Berlin entstanden ist.


Patrice: Wieviel Zeit war da dazwischen?

Daniel: Nur die Zeit, die die Leitungen benötigen, um den Ton von Berlin nach Bonn durchzulassen, im Millisekunden-Bereich –

Patrice: Also in Echtzeit quasi.

Daniel: ja. Man sah dann eben Bonner Bürger, Menschen, Wähler, dort vorne stehen in diesem provisorisch nachgestellten Parlament, und mitsprechen. Sie haben gesagt, was im Moment in Berlin gesagt wurde. Das war schon ein paar Millisekunden in der Vergangenheit und wurde nachgeprochen. Eigentlich war es ein Mitsprechen. Und manchen dieser Volksvertreter-Vertreter ist es auch gelungen, ihre Vorlage zu überholen, wenn klar war, wie der Satz enden würde.

Patrice: Neben dem ‚I try to speak about reality’ vom Priester, gab es ja in Brüssel einen anderen schönen Satz, den man für Deutschland 2 durchaus missverständlich einsetzen könnte – der Simultandolmetscher, der sagt "my theatre excludes my own opinion". Den finde ich wunderbar. An dem Projekt finde ich gerade die Unmittelbarkeit interessant – dass Leute einen Text sprechen, den sie nicht mehr gestalten können und die Blödsinnigkeit dessen, was sie da mitsprechen umso deutlicher wird.

Daniel: Genau: Diese Vorstellung dauerte so lange, wie beim Original getagt wurde, von morgens 8:30 Uhr bis nachts um viertel vor eins, und als Zuschauer kamst du rein, konntest sehen, wie es funktioniert, je nachdem wie gut der Volksvertreter-Vertreter war konntest du fast 1:1 mitbekommen, was da in Berlin gesprochen wird und es kam heraus, dass dieser Text in Berlin in seiner Länge nicht gerade gewinnt, und schon gar nicht interessanter wird in seiner Länge dadurch, dass nun andere Menschen ihn sprechen. Es ging um den Versuch, der war die Attraktion, und nicht die Vorlage und nicht ihre perfekte Kopie.

Patrice: [..]Ihr müsst die Menschen davon überzeugen, warum es möglicherweise richtig ist, sowas zu tun. Wie argumentiert Ihr denn da?

Stefan: Die 200 Leute, die bei Deutschland 2 Politiker kopieren wollten, taten das, weil sie einen persönlichen Bezug hatten zu ihnen. Oder weil sie diesen persönlichen Bezug gerade nicht mehr hatten, aber eine Lust daran, in ihre Rollen, in ihre Stimme hineinzuschlüpfen.

Patrice: Bei Deutschland 2 würde ich das noch sehen, dass es ein Bedürfnis gibt, mal Volksvertreter zu vertreten. Das liegt irgendwie noch nahe, aber es gibt ja noch andere Projekte, wo Ihr Leute dazu bringt, aus dem, was für sie ja Alltag ist, in einem anderen Kontext zu berichten.

Helgard: Erstmal haben wir ja ganz viele konkrete Fragen an die. Wir befragen sie ja zu ihrer Realität. Und dass sie sich auf eine Ausschreibung melden, oder sie sich auf anderem Wege einfinden, das heißt ja im Prinzip auch, dass sie dem einen Wert beimessen, dass sie das Gefühl haben, sie hätten was zu erzählen. Selbst der Oberbilleteur, den wir hier in Wien gewonnen haben und den wir sehr bitten mussten, sehr gut argumentieren mussten, damit er das tatsächlich auf der Bühne macht, der weiß ja auch, was er ist nach 20 Jahren in diesem Job, der blickt ja auf etwas zurück. Das ist ja nicht Nichts. Und dann zu sagen, jetzt fangen wir einen Probenprozess an und wir treffen uns ein, zwei Tage vor der Premiere, und dann gucken so und so viel Leute zu, das ist ein Schritt, den machen wir gemeinsam mit ihnen. Das ist gar nichts, was wir ihnen erklären müssen, sondern das vermittelt sich dann, weil wir nicht aufhören, Fragen zu stellen oder weil es für sie dann spannend ist, sich vorzustellen: was kommt da eigentlich am Schluß dabei heraus?

Stefan: Das ist wie wenn ein Maler jemanden fragen würde, ob er ihn portraitieren darf, und der kommt immer wieder hin ins Atelier und setzt sich da hin und irgendwann mal ist das Bild fertig und der Portraitierte würde sitzen bleiben, weil er sich so an das Atelier gewöhnt hat und dadurch ist das Bild überflüssig geworden.

Patrice: Matisse wurde von einem Kritiker vorgeworfen, dass das Bild das er male, gar keine Ähnlichkeit habe mit der Frau die es darstellen solle. Und Matisse antwortete dem Kritiker: Aber ich male ja gar keine Frau, ich male ein Bild.

Daniel: Das ist es.

Patrice: Ihr sucht ja immer auch Projekte – bei Deadline ist es ganz deutlich, Deutschland 2 funktioniert auch so – bei denen Aspekte aus der Wirklichkeit zentralen Charakter haben. Jetzt kann man sich ja darauf einigen, dass die Kultur zum Wesentlichen aus dem Ritual kommt und eines der wichtigsten Rituale ist der Umgang mit dem Tod,die Bannung der Bösen Geister, u.ä., wahrscheinlich ist deshalb bei Deadline die Herkunft aus dem Theater am nächsten, die ist gegeben durch die Genealogie aus der Kunst möglicherweise. Bei den Politikern von Deutschland 2 ist es ein bisschen komplizierter. Man kann nicht sagen, was Sache ist, man muss so tun "als ob" man wüsste, was zu tun ist, als hätte man ein Rezept, so tun als hätte man noch die Handlungsmacht. Und trotzdem: Ihr befragt ja auch die Wirklichkeit nach diesen theatralen Potentialen, also, wo Theater überall drin steckt.

Daniel: Ja, oder nach Überresten. Eine Entdeckung von Alltags-Theater als Stabilisator haben wir jetzt für "Zeugen!" im Strafgericht gemacht – in dem Gericht, in dem die Staatsmacht eine Unordnung festgestellt hat und eben die Ordnung symbolisch herstellt, indem jemand verurteilt wird – das ist dann zwar gar nicht mehr symbolisch, sondern ziemlich praktisch, aber um diesen Akt vollziehen zu können, wird da ein sehr offensichtliches Theater-Setting erhalten und benutzt. Das ist eher ein pragmatischer Rest, Rumpf, Niederschlag, einer alten Theaterkultur, der sich in solche Zentren gesellschaftlichen Handelns reingefressen hat. Man bedient sich ihrer immer genau dort, wo es darum geht, eine empfundene oder drohende Lücke zu schließen – zum Beispiel bei der Repräsentation von "Wählerwille" und Macht, und bei Beerdigungen eben auch.

Stefan: Das war das Schöne beim Kunsten Festival des Arts, wo wir 23 Leute eingeladen haben, 5 Minuten darüber zu sprechen, welche Rolle sie spielen in ihrer Stadt als Bühnenbild. Wir sind auf abwegigste Menschen gestoßen, aber wir haben bei jedem irgendeinen Punkt gefunden, wo er Zeichen erfindet und also Theater macht: Die Alzheimer-Krankenschwester dadurch, dass sie jeden Tag wieder die gleichen Lieder singt mit ihren Frauen, die sich nicht mehr daran erinnern, dass sie die gestern schon das gleiche gesungen haben, oder der Verkehrspolizist, der organisiert, wie er Zeichen setzen muss, damit eine ganze Stadt, die sich bewegt, nicht zusammenbricht...

Wien, im Januar 2004