Vorsicht! Freiheit im Quadrat

Die 13. Internationalen Schillertage am Nationaltheater Mannheim

By Ralf-Carl Langhals

01.09.2005 / Theater der Zeit

Sonderbusse sind im Einsatz, blasse Dramaturgen lehnen an Foyersäulen, erschöpfte Stipendiaten ruhen auf Wiesen um das Nationaltheater oder radeln auf Fahrrädern mit Namen wie „Posa“ oder „Kanaille“ zwischen dem abrissreifen Festivalzentrum, Off-Bühnen und Sidewalktheater durch die Stadt. Die Mühe lohnt sich, das Programm lockte unter dem Motto „Vorsicht Freiheit!“ an neun Junitagen 35.000 Besucher in über 120 Vorstellungen.

Sie lieben „ihren“ Schiller, die Mannheimer: „13. Januar 1782: Schillers Räuber am Nationaltheater uraufgeführt!“, so lernt es noch heute jeder Mannheimer Grundschüler, so steht es in jeder Broschüre des regionalen Tourismusgewerbes und gehört zum lokalpatriotischen Einmaleins der Quadratestadt wie Wasserturm und Barockschloss, auch wenn Dalberg, Iffland und Konsorten seinerzeit ziemlich schäbig mit dem Shakespeare aus Schwaben umgingen. Sei’s drum; von der schüchternen Verzagtheit und den Befindlichkeiten, die das Schillerjahr 2005 zwischen Feierpflicht und Jubiläumssattheit bisher prägten, war in Mannheim nichts zu spüren, und gerade die Veranstaltungen waren am aufregendsten, die sich getreu dem Festivalmotto alle erdenklichen Freiheiten im Umgang mit Schiller nahmen.

Stapelweise liegen gelbe Reclam-Heftchen auf der Neckarauer Probebühne, doch in zwei Stunden „Wallenstein“ fallen nicht mehr als 50 Zeilen Schiller-Text, ein Werkstattprojekt aus Lebenszeugnissen von Soldaten, Mächtigen und Gescheiterten; allesamt Laiendarsteller, Mundartsprecher oder skurrile Figuren auf der Suche nach dem Quäntchen Schiller im eigenen Leben. Es ist das erste Mal, dass Rimini Protokoll mit ihrem dokumentarischen Verfahren einen klassischen Theatertext aufgreifen und das Wesentliche daraus wieder auf den Stoff zurückwerfen.

Gerade deshalb gereicht es Schiller zur Ehre, was sich Helgard Haug und Daniel Wetzel, zwei Akteure des Künstlerkollektivs, diesmal ohne ihren Kollegen Stefan Kaegi, zu Schillers gigantischer Trilogie erdacht haben. Sie suchten an den Stätten ihrer Koproduktionen, dem Nationaltheater Mannheim und Weimar, Entsprechungen aus heutiger Zeit und fanden sie in Ralf Kirsten, Leiter der Weimarer Polizeidirektion, der sich zu DDR-Zeiten durch Liebe zu einer Ausreisewilligen Ost- wie Westkarriere versaute, sowie im Mannheimer Richter und Stadtrat Sven-Joachim Otto.

Nun ist ein CDU-Politiker aus der Provinz kein kaiserlicher Generalissimus und der OB-Wahlkampf auch in Mannheim kein Dreißigjähriger Krieg. doch welches sind die Spielregeln des Erfolgs? Wo gilt es, Entscheidungen zu treffen? Wann ist der Mächtige machtlos? Wie wird der Täter zum Opfer? Auf der trashigen Drehbühne von Judith Kehrle stehen zwischen Plakatwand und Grillstation keine Schauspieler, sondern „Experten der Wirklichkeit“, deren Wirkungsstätte nicht das Theater, sondern das Leben selbst ist. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, schreib der Jubilar in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, Rimini Protokoll machten die komplexe These, sonst Thema germanistischer Podiumsdiskussionen, mit einer „dokumentarischen Inszenierung“ im theatralen Raum sichtbar.

Am unteren Ende der Machtskala steht laut Schiller das Kanonenfutter aus „Wallensteins Lager“. Der Krieg hat seine eigenen Gesetze, doch für welche Ideale sind Soldaten bereit zu sterben, und wo kommt es zur Befehlsverweigerung? Vietnam-Veteran und Antikriegsaktivist Dave Blalock erzählt von seinem Einsatz im Jahre 1968, dem Massaker an Zivilisten und von einem verhassten Kommandeur, dem die eigene Truppe eine Handgranate unter das Feldbett warf, während der ehemalige Zeitsoldat Hagen Reich und der Mannheimer Luftwaffenhelfer Robert Helfert Kampferfahrung „made in Germany“ wiedergeben. Zwischen Drill und Überlebenskampf marschieren, singen und stampfen sie, nicht nach Schillers Metrik, sondern im Takt ihrer Kriegserinnerungen zwischen Mannheimer Ruinen und Vietcong.

Nicht Seni, die Mannheimer Astrologin Esther Potter befragt die Steren zu Sven Wallensteins politischer Zukunft und singt eingangs bereits Jim Morrisons „This is the end“. Zwischen Mächtigen und Duldern stehen die Vermittler, Förderer und Gewährsleute: Aus den vorzimmern der Macht des Hotels Elephant in Weimar berichtet der ehemalige Oberkellner Wolfgang Brendel von Hitler-Pfalz und KSZE-Verhandlungen. Um die Einsamkeit mächtiger Männer weiß dagegen Rita Mischereit, Inhaberin einer Seitensprungagentur in Ludwigshafen, und schlüpft in die Rolle der kuppelnden Gräfin Terzky.

Menschlich anrührend dreht sich das Karussell um politische Kabale und menschliche Einzelschicksale. Sie alle erzählen ihre Geschichte, einfach so, mit natürlichem Charme, eigener Sprache und souverän in ihrer laienhaften Unsicherheit. Doch dieser formale Dilettantismus mit seiner Mischung aus holprigem Schülertheater und konzeptlastiger Dokumentation hat bei Rimini Protokoll semantische Methode: Wie stark ist die Realität des Spielers Mensch inszeniert?

Faszinierend dabei ist, dass keiner dieser Menschendarsteller auf Kosten trashiger Projektkunst denunziert wird, nicht der schwäbelnde Schiller-Fan Friedemann Gassner, nicht der gescheiterte Kommunalpolitiker. Und so erzählt Otto vom Dasein als Verlegenheitskandidat, von einer peinlichen Wahlkampfbroschüre, von politisch korrekten Lieblingsgerichten, von Grillfesten mit Bierfass, vom geliehenen Familienhund zu PR-Zwecken und – mit dramatischem Impetus – vom Moment des „Verrats“.

Wir sehen ihn als Verarbeiter einer persönlichen Niederlage, das verdient Respekt und schafft Sympathien bei Menschen, dieihn auf offene Nachfrage ins Publikum auch in zehn Jahren, wenn  - wie Astrologin Potter weiß – seine Sterne besser stehen, nicht wählen werden. Therapiert er bewundernswert eine persönliche Niederlage oder kokettiert er mit vermeintlich gezogenen Lehren und schreckt selbst vor opportuner Selbstentblößung nicht zurück? Polittheater? Vielleicht, aber Theater mitten in dieser unsrer Welt, das sich mit Theatermitteln selbst negiert – und Schiller an der Gegenwart misst.

 

 

 


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