Vertrauen macht blind

Gestern hatte das Projekt „Remote Karlsruhe“ von Rimini Protokoll Premiere

By Michael Hübl

17.06.2015 / Badische Neueste Nachrichten

Rimini Protokoll ist in Karlsruhe spät entdeckt worden. Am 28. September 2011 bot das Künstlerkollektiv im Rahmen des Festakts „60 Jahre Bundesverfassungsgericht“ die Weiterentwicklung eines Projekts, das drei Jahre zuvor im Berliner Hebbel am Ufer / HAU gezeigt wurde. Das Projekt „100 Prozent Karlsruhe“ wurde danach nicht nur einige Male im Badischen Staatstheater wiederholt, man nahm es gewissermaßen zum Vorbild für eine Reihe von Bürgertheaterprojekten, die allerdings nicht die gleich Überzeugungskraft entwickelten wie „100 Prozent Karlsruhe“.
Jetzt ist Rimini Protokoll zurück. Gestern am frühen Abend war auf dem Friedhof von Grünwinkel Premiere von „Remote Karlsruhe“. Genauer gesagt: Dort begann ein Parcours, der teils zu Fuß, teils per Straßenbahn zurückgelegt wird und in dessen Verlauf auf beklemmende Weise bewusst wird, weshalb der Start ausgerechnet auf einem Gräberfeld lag. Der lockere Spaziergang, der mit einem gemeinsamen Blick in den Abendhimmel endet, führt zu der Erkenntnis, dass in der modernen Technologiegesellschaft Teile der menschlichen Freiheit verschüttet sind, dass das Denken und Handeln nicht nur durch Machtstrukturen, sondern durch einfache technologische Mittel fremdbestimmt wird und insofern abgestorben ist. Zwei einfache Beispiele, die der ein oder andere vielleicht selbst erlebt hat: Man fährt mit dem Auto, plötzlich kommt ein flottes Lieblingsstück im Radio und schon drückt man wie automatisch aufs Gas. Oder: Man erwägt, Urlaub in Portugal zu machen, stöbert ein wenig im Netz, und prompt füllt sich in den nächsten Tagen das E-Mail-Postfach mit einschlägigen Reiseangeboten. Bei diesen Momenten der Steuerung setzt Rimini Protokoll mit „Remote Karlsruhe“ an. Unter „remote“ versteht man den Zugriff auf ein entferntes System. Im Fall der Karlsruher Unternehmung erfolgt der Zugriff auf das System Mensch. 50 Teilnehmer sind zugelassen. Sie erhalten Kopfhörer und ein Empfangsgerät, durch das sie nun ferngesteuert werden. Mal ertönt die Aufforderung, jemandem in die Augen zu blicken, mal gibt es – zumindest für einen Teil der Gruppe – Anweisungen zu Ballettübungen mitten in der Konsumzone am Ettlinger Tor.
Alles harmlos könnte man meinen. Was ist schon dabei, auf dem Friedrichsplatz zu per Kopfhörer eingespielter Musik zu tanzen. Obschon man stutzig werden sollte, wenn plötzlich von Walzer auf Rock umgestellt wird, und (fast) alle ihre Bewegungsabläufe ändern. Klar, ein Spiel. Aber wie viel fatale Realität in ihm steckt wurde an den Ampeln deutlich, die vertrauensselig bei Rot überquert wurden, bloß weil die synthetische „Remote“-Stimme dazu aufgefordert hatte, das Signal einfach zu missachten.
Sozialpsychologisch interessant auch der Besuch der Katholischen Stadtkirche St. Stephan. Ein Ort, der allemal geeignet ist zu veranschaulichen, dass sich der Mensch nicht nur durch technische Medien dem „Prinzip Horde“ (Rimini Protokoll) unterwirft: Auch die Suggestion einer Überzeugung oder der Zwang durch eine Gruppe bringen Menschen dazu, ihr Verhalten vorgegebenen Ritualen und Handlungsanweisungen anzupassen. Quasi sakral denn auch die Stimme am Ende, die verkündet „Ich war der Hirte ohne Gesicht.“ Der Schluss hat zwar eine leichte Kitschnote, insgesamt jedoch ist die Teilnahme unbedingt empfehlenswert. Man lernt viel über sich selbst, über Massenverhalten und über eine möglicherweise furchtbare Zukunft.


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