Spurensicherung am Tatort Theater

«Uraufführung: Der Besuch der alten Dame» von Rimini Protokoll in Zürich

By Günther Fässler

27.06.2007 / St. Galler Tagblatt

Das Regiekollektiv Rimini Protokoll rekonstruiert am Schauspielhaus Zürich die Uraufführung von Dürrenmatts «Alter Dame» von 1956 kriminalistisch. Mit Zeugen und einem unheimlichen Besuch.

«Klärchen von Güllen / mein Geist und mein Gut / du meine Seele ...», singen drei Mitglieder des Kinderchores, die nun über sechzig sind. An der Uraufführung am 29. Januar 1956 auf der Pfauenbühne war ihr Empfangsständchen nicht zu hören, weil ein Zug an Güllen vorbeiratterte. Jetzt: Zug weg, Choral da. Das Prinzip funktioniert immer. Mutter weg, Erinnerung da. Geld weg, Armut da. Uraufführung weg – was da? Schwer zu sagen, jedenfalls drei Geisterstunden.

 

 

Verstreutes sammeln

 

Das Regiekollektiv Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel ist mit Dokumentartheater berühmt geworden. Es castete schon Sterbeexperten (für «Deadline»), Herzexperten («Blaiberg und sweetheart69») oder Marx-Experten («Das Kapital»), jetzt Uraufführungs-Zeugen (mit Durchschnittsalter 69,5 Jahre). Die Riminis sind Sammler, Archäologen, Kuratoren. In den Proben sammeln und präparieren sie Realmaterial und inszenieren es museal.

Im ersten Teil erzählt der einstige Bühnentechniker Hans Städeli von Ab- und Aufbauten am Uraufführungstag. Eva Mezger, Zuschauerin und Dampffernseh-Moderatorin, improvisiert die Ansage einer Direktübertragung der «Alten Dame». Der Regieassistent Richard Merz stellt mit Foto- Attrappen von Therese Giehse (Claire) und Gustav Knuth (Ill) die Waldszene nach. Die Gedecke fürs Bankett waren aufgeklebt – nein aufgemalt, widerspricht der Zuschauer Johannes Baur.

Pappe und Nichtigkeiten, mehr ist nicht. Doch mit Spurenlegung und -sicherung schafft Rimini eine gespannte Atmosphäre der Erwartung. Wir sind hier und jetzt die Güllener des ersten Akts, die die reichste Frau der Welt erwarten – und merken mählich, dass sie schon da ist: Besuch der alten Dame Theater, die, wie Claire Zachanassian, aus Prothesen besteht, ja Ersatz ist. Wir erleben die ersetzte Uraufführung mit Spickzettel-Prothesen für authentische Erinnerungen. Ihr Reichtum? Unvorstellbar, nämlich die Summe unserer Erinnerungen ans Stück und aller Vorstellungen auf der Bühne und im Publikum, wie die Uraufführung war, vielleicht. Vielleicht so, vielleicht anders. In diesem Vielleicht steckt die Unermesslichkeit des Bildermachens von dem, was nicht da ist.

 

Transparent undurchsichtig

 

Das Stück ist nicht da, die Uraufführung schon gar nicht, nur Plunder, Prothesen, Projektionen, Perspektiven aufgrund realer Zeugen. Auch im zweiten Akt mit Wirtschaftsaufschwungs- und Jagdgeschichten gibt der Inspizient die Anweisungen, so dass wir akustisch in Garderobe, Kantine und Schnürboden sind – das Schauspielhaus wird transparent undurchsichtig, unsere Einbildungskraft nochmals reicher.

Mit der Bedingung im Ohr, dass unsere Teilhabe am Reichtum einen Mord voraussetzt, wird der dritte Akt ätzend. Eine Schar Kinder in Kostümen spielt die Gemeindeversammlung. Ein Knirps hält die mörderisch verlogene Werte-Ideale-Rede – perfekt.

Mit der Öffnung in die Zukunft wird das Erinnerungstheater, das Gegenwart mit den Zeugen und mit uns einschliesst, total. Es schafft, entlang von Dürrenmatts Dramaturgie, mittels Spurensicherung einen enorm reichen Verdachtsraum, der sich zum Tatort verdichtet, dem nur noch eine gewisse Erinnerung fehlt. Denn am imaginierten Reichtum der Bilder, überhaupt am Reichtum, ohne den Theater nicht zu denken ist, haben wir teil, also – das ist die Logik des Stücks – müssen wir Lebendiges töten oder getötet haben. Was? Eine Frage der persönlichen Erinnerung.

Der Applaus jedenfalls ist ziemlich nach der Schrift im Regiebuch von 1956. Wiederholungstäter, so viel steht fest.


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