Sind wir noch im Bilde?

Die US-Wahl als Nachrichten-Verwirrspiel-Performance auf Kampnagel

By Stefan Hentz

06.11.2008 / Die Welt

Es ist ein großes Plappern, fast ein Rauschen. Auf der Bühne stehen 22 Fernseh-Bildschirme. Nachrichtenbilder flackern, brennende Feuer, vorfahrende Limousinen, durchs Bild rennende Köpfe - das Übliche eben. Zu hören ist manchmal nichts, manchmal sehr viel, und gerade ist es all das, was die sieben Übersetzer und Nachrichtenmenschen auf der Bühne gerade live übersetzen oder interpretieren oder durcheinander quasseln. "Breaking News", ein "Tagesschau-Spiel" von Rimini Protokoll auf Kampnagel, live vom Abend der US-Präsidentenwahl.

Im Zentrum stehen die Nachrichten, die News oder das, was zu News gemacht wird. Die Hauptnachrichten, abends, 20 Uhr unserer Zeit. Das, wovon man bis vor gar nicht so langer Zeit dachte, dass es die Menschen einer Gesellschaft als gemeinsame Erfahrung mit einander verbinde. Die Kampnagelbühne ist per Satellit vernetzt mit zahlreichen Fernsehanstalten in verschiedenen Winkeln der Erde, in Pakistan und Atlanta, in Dubai und Berlin, in Syrien und Frankreich und so weiter und so (weit) fort.

Die sieben Protagonisten entscheiden sich für eine Zeit für einen Sender, der ihnen vertraut und sprachlich zugänglich ist, übersetzen, kommentieren, was sie sehen. Wer meint, gerade etwas Spannendes oder Typisches gesehen zu haben, meldet mittels einer Klingel Neuigkeiten an. Die Bilder sind immer die gleichen, aber dennoch werden mit ihnen völlig unterschiedliche Geschichten erzählt.

Es ist der Abend eines Wahltages, der in den USA noch lange nicht vorüber ist - Top-Nachrichten sind zu erwarten, aber das, was an einer Wahl interessant ist, das Ergebnis, steht noch lange nicht fest. Und doch kämpfen die Fernsehstationen auf der ganzen Welt damit, dass Nachrichtenredakteure und das Publikum gespannt sind und nach Neuigkeiten von der Wahl gieren. Es gibt keine. Die einen berichten, dass Obama bei einem Wahlerfolg zum ersten US-Präsidenten dunkler Hautfarbe würde - nichts Neues. Andere zeigen John McCain beim Wählen oder Barack Obama oder wen auch immer. Dachten wir uns, dass die wählen.

Andere Sender aus anderen Ländern lassen sich Zeit mit der Wahl im fernen Amerika und besprechen lieber Nationalfeiertage, huldigen Helden des 17. Jahrhunderts oder deklamieren die Liste mit all den neuen Ministern. Auch nicht eben neu, und vermutlich nicht demokratisch. Aber man kann sehen, wie Nachrichten-Auswahl und ihre Gewichtung von kulturellen Voraussetzungen bestimmt sind. "Breaking News" organisiert den Nachrichten-Overkill, einen Kollaps der nachrichtlichen Zeichen, der Gelegenheit schafft, das eigene Verhältnis zu den News aus dem Fernsehen noch einmal neu zu kalibrieren.

Der Erkenntnisgewinn?

Ein Spiel ist ein Spiel ist nicht unbedingt ein Beitrag zur Volksbildung. Eine Live-Performance ist live ist nicht in jeder Hinsicht steuerbar. Ein Wahlabend ohne Wahlergebnis ist - und bleibt - unbefriedigend. Eine Nachricht ist eine Nachricht. Aber was ist eine Nachricht? In der Ballung und Schichtung verständlicher und unverständlicher Nachrichten wird alles gleich. Und nichts bleibt uns übrig, als selbst die Zusammenhänge herzustellen, die ihr Sinn geben. Neue Nachricht? Nein. Aber ein immer wieder notwendiger geistiger Selbstreinigungsprozess.

DIE WELT 06.11.2008


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