Rimini Protokoll ergründet die Paradoxien des urbanen Lebens

By ROBERTA BOSCO

04.07.2021 / elpais.com

Die Stadt, eine Ansammlung von Menschen, die – ohne bemerkenswert Notiz davon zu nehmen – einander begegnen, sich voneinander entfernen und miteinander interagieren, verwandelt sich in eine begehbare Installation im Rahmen von Urban Nature, dem aktuellen Projekt der anerkannten deutschen Künstlergruppe Rimini Protokoll. Die Installation, eine Koproduktion mit dem Grec Festival de Barcelona, wird bis zum 19. September im Zeitgenössischen Kulturzentrum von Barcelona (CCCB) und anschließend in der Kunsthalle Mannheim zu sehen sein. Rimini Protokoll, bekannt für unkonventionelle Spielarten, die die Grenzen künstlerischer Disziplinen durchbrechen, ergründen in Urban Nature Möglichkeiten des Zusammenlebens in einer multikulturellen Stadt wie Barcelona und laden das Publikum ein, in die Haut von sieben Personen und deren Lebensgeschichten zu schlüpfen. „Es mutet einer Heldentat an, eine Produktion dieser Art zu Pandemiezeiten auf die Beine zu stellen. Das Wesen einer Stadt statuiert sich mittels ihrer Diversität“, bemerkt Jordi Costa, Ausstellungsleiter des CCCB. Die sieben Hauptdarsteller*innen, so Costa weiter, wurden mithilfe eines öffentlichen Castings ausgewählt, bei dem mehr als 70 Kandidat*innen vorsprachen: allesamt keine Schauspieler*innen, sondern reale Personen, die ihre Erfahrungen teilen möchten.

Den Besucher*innen der Installation werden – anhand unverkennbarer urbaner Räume –Lebensgeschichten präsentiert, in die sie sich einfühlen können; Formen der Koexistenz und des Miteinanders. „Wir betrachten es als einen begehbaren Film, doch es ist auch eine Art erweitertes Theaterexperiment und szenische Ausstellung; die Teilnehmer*innen sind ein eigener wichtiger Baustein“, erklärt Costa. Wie bereits das Konzept selbst pendelt sich auch der Installationsbesuch irgendwo zwischen Ausstellungs- und Theaterabend ein. Die Installationsfläche erstreckt sich über sieben Räume, in denen audiovisuelle Projektionen, szenische Ausschnitte und akustische Darbietungen präsentiert werden, durch die das sinnliche Erlebnis seine Wirkung entfaltet. „Wir verzichten auf Kopfhörer: Besucher*innen und Inszenierung sollen keinerlei Geräte zwischengeschaltet sein“, erläutert Bühnenbildner Dominic Huber. Alle acht Minuten werden Besuchergruppen von jeweils elf Personen eingelassen; einer Person wird die Aufgabe der Spieldirektion zugeteilt und ein Tablet mit Anweisungen ausgehändigt, die an die Gruppe weitergeleitet werden. Die Erzählung nimmt ihren Anfang auf einem kleinen Marktplatz, wo ein Professor für Wirtschafts- und Umweltgeschichte den Zusammenhang zwischen Stadt und Natur sowie die Notwendigkeit erläutert, den Umgang mit natürlichen Ressourcen neu zu gestalten. An einer Bartheke treffen die Besucher*innen auf den Leiter eines bekannten Messenger-Dienstes, der in die Welt der sogenannten Gig Economy einführt; dem Inbegriff prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Die Kehrseite der Medaille ist eine Unterkunft für Bedürftige, in der die Besucher*innen auf einer Bahre liegend die Geschichte von Siham erfahren, das Symbol einer ungewissen Zukunft etlicher Jugendlicher. Eine herkömmlicherweise Architekt*innen zugeschriebene Aufgabe übernimmt die neunjährige Leyla, die die Stadt der Zukunft visualisiert. Leylas Träume, die sich um den Entwurf einer imaginierten – aus Kinderspielzeug gebauten – Stadt drehen, leiten über zu den düsteren Abgründen einer Metropole: eine Gefängniswerkstatt, in der Inhaftierte Industrieteile fertigen sowie der Tennisplatz einer Finanzberaterin, die die Widersprüchlichkeit des Frauseins in einer maskulin dominierten Welt verkörpert. Zu guter Letzt treffen die Besucher*innen auf Grafikdesignerin Camila, die den sozialen Medien und der Welt der Influencer*innen den Rücken gekehrt hat, um einer anderen, nicht risikofreien Beschäftigung nachzugehen: der Marihuana-Produktion. Auf Camilas Plantage versammeln sich zum Abschied noch einmal alle Charaktere: Die 56 Minuten, die der Installationsbesuch in Anspruch nimmt, vergehen wie im Flug. Als finales Überraschungsmoment führt der schmale Ausgangskorridor zu einem Panoptikum mit als Spiegel getarnten Fenstern, durch die die Teilnehmer*innen unbemerkt die nachfolgende Besuchergruppe beobachten können. „Wir wollen aufzeigen, dass wir uns zwar in einem komplexen technologischen Setting befinden, der eigentliche Wert jedoch durch die Menschen geschaffen wird. Durch Installationen suchen wir den Dialog mit dem Publikum, das heute mehr denn je das letzte Wort hat“, schließt Costa.


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