Nachspiel

Das Regiekollektiv Rimini Protokoll rekonstruiert Dürrenmatts «Besuch der alten Dame». Mit neun Laien-Experten, Pappfiguren aus der Uraufführung von 1956 und einer Schar Kinder

By Urs Strässle

21.06.2007 / Züritipp

29. Januar 1956: Nach gerade mal dreieinhalb Wochen Probenzeit und vier Bühnenproben gelangte auf der Zürcher Pfauenbühne Friedrich Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame» in der Regie von Oskar Wälterlin zur Uraufführung. Die grosse Therese Giehse gab die Titelrolle der Claire Zachanassian, die auf ihre alten Tage hin als schwerreiche Witfrau ins heimatliche Güllen zurückkehrt.

Dort bereiten ihr die Notabeln einen grossen Bahnhof, natürlich in der Hoffnung, dass vom Tisch der Magnatin ein paar Krümel für das wirtschaftlich ausgehungerte Güllen abfallen würden. Wogegen Claire - in Güllen Kläri gerufen, geborene Wäscher, ehemalige Prostituierte und jetzt Witwe eines armenischen Milliardärs - nichts einzuwenden hat. Im Gegenteil. Fast grenzenlos ist ihre Grosszügigkeit. Nur knüpft sie daran eine Bedingung: Die Milliarde für die Güllener lässt sie nur springen, wenn sich jemand bereit findet, den Krämer Ill (gespielt von Gustav Knuth) zu töten. Der war als junger Mann ein schneidiger Kerl und Claires grosse Liebe, bis er sie schmählich verriet.

 

Tragödie des Reichtums

«Der Besuch der alten Dame», eine «Tragische Komödie» über Segen und Fluch des Geldes, war neben den «Physikern» Dürrenmatts erfolgreichstes Theaterstück. In 40 Sprachen übersetzt, wurde es schon bald rund um den Globus gespielt, tausendfach neu interpretiert und adaptiert, verfilmt, vertont und in den Kanon der Schulliteratur aufgenommen. Das Stück machte den Autor zu einem vermögenden Mann. Es ist eine wirkungsgeschichtliche Schelmerei, dass Dürrenmatt den Stoff ursprünglich zu einer Erzählung verarbeiten wollte, dann aber davon absah, weil er pekuniär gerade recht klamm war und ein Theaterstück bessere Einkünfte versprach. Was folgte, übertraf Dürrenmatts kühnste Erwartungen, obwohl er selber das Stück «nie sehr geliebt» haben will. - Im kollektiven Gedächtnis ist «Der Besuch der alten Dame» vor allem als Rachekomödie haften geblieben. Demgegenüber verrät eine Passage aus der Fassung von 1956 noch, dass Claire Zachanassian ein mächtigeres Motiv umtrieb: «Ich liebte dich, du warst der Held meiner Jugend, (...)

der mich verriet. Doch den Traum (...) habe ich nicht vergessen. Darum wollte ich deinen Tod. Nicht aus Rache, die nichts ändert, sondern dich wieder zu finden, indem ich dich töte, dein Bild herzustellen, indem ich dich vernichte», gesteht Claire im dritten Akt dem bedauernswerten Ill. Einen Traum in Erinnerung überzuführen, ein «Bild herzustellen»: Darum gehts der Witwe. Und darum gehts auch Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel vom Regiekollektiv Rimini Protokoll in ihrem Projekt mit dem Titel «Uraufführung: Der Besuch der alten Dame».

51 Jahre sind vergangen seit der legendären Uraufführung. Was ist davon an kollektiver und individueller Erinnerung noch abrufbar? Welches sind deren Schnittstellen? Und was geht ein in das kollektive Gedächtnis? - Antworten auf diese Fragen haben Rimini Protokoll zunächst in diversen Text- und Fotoarchiven, in Regiebüchern und Gesprächen mit Erinnerungs- und Traumaspezialisten gesucht. Dann haben sie etwa 50 Personen, allesamt Laien, gecastet, die etwa als Zuschauer, Darsteller, Techniker Zeugen der Uraufführung waren, haben 60 Stunden Video-Interviews aufgenommen, einen ganzen Berg von Erinnerungen.

 

 

Eine Rekonstruktion

Diese liefern zusammen mit dem Stücktext das Ausgangsmaterial für dieses Nach-Spiel, das jetzt im Rahmen der Zürcher Festspiele mit neun «Experten» am Originalschauplatz zur Aufführung gelangt (vgl. Text unten). Als würde ein Schrank, in den die gesammelten Requisiten von 1956 weggeschlossen waren, noch einmal geöffnet, soll das flüchtige theatrale Ereignis von damals - und eben nicht das Stück - auf der Pfauenbühne rekonstruiert werden, erklärt Dramaturg Imanuel Schipper.

Den dramaturgischen Rahmen liefert Dürrenmatts Dreiakter, ebenso die Stichworte für die Erinnerungsexkurse der Darsteller, die im Übrigen - auch das ist Konzept bei Rimini Protokoll - immer wieder die Rollen wechseln. So entsteht ein Erinnerungspuzzle, in dem sich auf assoziative Weise Individuelles und Kollektives, Biografisches und Historisches, Wirkliches und Theatrales verschränken. Und Zukünftiges: als Vorwegnahme kommender Inszenierungen wird eine Hand voll Kinder Szenen aus der «alten Dame» spielen. Auch das gehört zur Erinnerung: die Unabgeschlossenheit.

 


JÄGER DER ERINNERUNG

Die neun Experten, die beim «Besuch der alten Dame» auf der Pfauenbühne stehen, verbindet zweierlei: Ihre Erinnerungen an die Zürcher Uraufführung von 1956, und sie sind Laien.

Ursula Gähwiler, 1956, Kinderchor: *1945, in Zürich, geborene Graf. Sie lebte einige Jahre in Kanada, ehe sie mit 28 Jahren in der Schweiz heiratete. Heute verwaltet sie ein Fotoarchiv. Gähwiler erinnert sich, dass man die Kinder damals der «alten Dame» auch auf den Proben nur ungern aussetzte, weil man sie nicht für kindergerecht hielt.

Hans Graf, 1956, Kinderchor: *1943, in Zürich, Ursula Gähwilers Bruder. Von 1966-92 lebte er in Kanada, der Dom. Republik und den USA, wo Graf - ohne sich dessen zunächst bewusst zu sein - am Woodstock-Konzert teilgenommen hat. Den bleibendsten Eindruck verdankt er Therese Giehse: «Die war auf der Bühne so eine böse Frau und mit uns Kindern dann eine so liebe Tante.»

Christine Vetter, 1956, Kinderchor: *1930, in Zürich, geborene Eidenbenz. Sie lernte Arzthelferin und ist in der Zwischenzeit schon Grossmutter geworden. - «Ich frage mich, ob wir damals geschminkt wurden. Wahrscheinlich nicht.»

Johannes Baur, 1956, Zuschauer: *1934, in Zürich. Baur trat 1960 als Bauunternehmer in den Familienbetrieb ein. Seit 1999 befindet sich der passionierte Jäger im Ruhestand. «Trophäen sind Erinnerungen», sagt Baur.

Bibi Gessner, 1956, Direktionssekretärin: *1925, in Wettingen, geborene Bischof. Ab 1948 arbeitete sie am Pfauen unter Oskar Wälterlin, Kurt Hirschfeld und Leopold Lindberg als Direktionssekretärin und Regieassistentin. Lebte mit ihrem Mann,

Nicolas Gessner, in Rom, Paris und Los Angeles und kehrte 1981 wieder nach Zürich zurück. Gessner erinnert sich an nächtliche Stossgebete, die sie in der Hoffnung himmelwärts schickte, dass diese Dürrenmatts berüchtigte Korrekturlust dämpfen. Sie hatte anderntags jeweils die Texte neu zu tippen und zu vervielfältigen.

Richard Merz, 1956, Regieassistent: *1936 in Zug. Merz ist Inhaber einer eigenen psychotherapeutischen und psychoanalytischen Praxis und ist als Tanz- und Theaterkritiker für die NZZ und die «Zürichsee-Zeitung» tätig. Merz hat für Rimini Protokoll seine stenografierten Einträge in den alten Regiebüchern von damals entziffert.

Eva Mezger, 1956, Zuschauerin: *1934 in Basel. Mezger war die erste Fernsehmoderatorin von SF DRS (ab 1954), lebte und arbeitete von 1957 bis 1961 als Schauspielerin in Deutschland und kehrte 1973 in die Schweiz und zum Schweizer Fernsehen zurück, wo sie die Sendungen «Da Capo», «Seniorama» und «Treffpunkt» moderierte. Mezger erinnert sich im Zusammenhang mit der Prothesenträgerin Claire Zachanassian an eine besonders eindrückliche Sendung über Amputationen.

Hans Städeli, 1956, Bühnentechniker und Marionettenbauer: *1930 in Zürich. Der gelernte Holzbildhauer Städeli arbeitete bis 1957 im Pfauen als Bühnentechniker und Beleuchter, später als Maler und Bühnenbildner in Luzern und lehrte von 1969 bis 1993 als Dozent an der HGKZ.

Kurt Weiss - 1956, Zuschauer: *1937 in Zürich. Weiss, zur Zeit der Uraufführung Gymnasiast und schon damals ein «Theaterfreak», ist promovierter Physiker und arbeitet heute für die SAP Schweiz AG. In die Zeit seiner Intendanz am Theater am Kirchplatz in Schaan (FL, 1992-97) fällt eine Aufführung «der alten Dame», die openair am Bahnhof Schaan gespielt wurde. Das Theater kehrte in die Wirklichkeit zurück: Claire Zachanassian entstieg einem wirklich eingefahrenen Zug. (ust)

1956 Mitglieder des Kinderchors: Ursula Gähwiler, Hans Graf, Christine Vetter.Johannes Baur, Zuschauer.Bibi Gessner, Direktionssekretärin.Richard Merz, Regieassistent.Eva Mezger, Zuschauerin.Hans Städeli, Bühnentechniker.Kurt Weiss, Zuschauer.


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