Leben im Bücherregal

Karl Marx: Das Kapital, Erster Band in Trier

By Na Young Shin

08.09.2008 / 16vor – Nachrichten aus Trier

Kann man aus einem wissenschaftlichen Werk wie “Das Kapital” ein Bühnenstück inszenieren? Naja, nicht eins zu eins. Aber man kann Menschen zu Wort kommen lassen, die Experten für das Buch oder für die Prozesse sind, die darin beschrieben werden. Genau das taten die Theatermacher “Rimini Protokoll” aus Berlin, die von der Tufa, dem Karl-Marx-Haus und dem Stadttheater für ein Gastspiel von “Karl Marx: Das Kapital, Erster Band” nach Trier eingeladen wurden. Geboten wurde am Samstagabend im Stadttheater aktuelle Bühnenkunst, viel “echtes Leben”, etwas Marxlektüre – und vorab eine handfeste Publikumsrevolte.

TRIER. Frau Professor Beatrix Bouvier meinte es doch nur gut. Um den über 500 Besuchern den Zugang zum Stück zu erleichtern, gibt sie zu Beginn eine wissenschaftliche Einführung. Zehn Minuten lang. Fünfzehn Minuten lang. Zwanzig Minuten lang. Das Publikum wird immer unruhiger. Nach fünfundzwanzig Minuten fängt eine Gruppe Zuschauer während des Vortrags an zu applaudieren. Weil sich niemand anschließt, verebbt der als Aufforderung zum Aufhören gedachte Beifall nach einigen Sekunden wieder.

Die Leiterin des Karl-Marx-Hauses lässt sich davon nicht unterbrechen. Schließlich ruft einer: “Wir wollen das Stück sehen!” Jetzt klatscht fast das halbe Haus. Intendant Gerhard Weber steht von seinem Sitz auf und bittet das Publikum um Mäßigung. Doch die Stimmung ist gereizt. Frau Bouvier gibt eine hilflose Rechtfertigung für ihre etwas zu ausführlich geratene Rede ab, und um die peinliche Situation zu beenden, kommt Markus Mitschke, der Projektleiter des Tufa-Kultursommers, auf die Bühne, überreicht ihr einen Blumenstrauß und begleitet sie zu ihrem Platz. In Trier beginnt das Marx-Stück also mit einer spontanen Revolte. So hat Frau Bouvier doch noch für eine gelungene Einführung in das Stück gesorgt.

Wie sieht wohl die Kulisse für eine Inszenierung des “Kapitals” aus? Meterhohe Druckseiten, Denkmäler, Fabrikambiente, Tresorräume? In Zusammenarbeit mit Daniel T. Schultze haben sich das Regieteam Helgard Haug und Daniel Wetzel für eine Bücherwand entschieden, die sich über die gesamte Bühne erstreckt. In den Regalen stehen natürlich die Gesamtausgabe (MEGA) und die Werkausgabe (MEW), dunkelblaues Leinen mit hellblauem Titelstreifen auf dem Buchrücken und Goldprägeschrift, und auch andere Ausgaben zieren die Regalbretter. Zwischen den Büchern erkennt man weiterhin eine vollautomatische Kaffeemaschine, Blumen in einer Vase, eine Tafel, zwei Spielautomaten, eine Plattensammlung und Flachbildfernseher, die in “Live-Übertragung” die gerade relevanten Seiten des “Kapitals, Erster Band” zeigen.

Was den Abend und das Buch beseelt, ist jedoch der Esprit der Inszenierung, mit dem in den Seiten des Lebens geblättert wird. Denn die Bücherwand ist bewohnt. In ihr leben die Protagonisten. Sie sitzen zunächst zwischen den Wälzern. Sie sind die Konkretion dessen, was in schwarzen Lettern geschrieben steht und zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten gelesen, studiert oder ungelesen zur Kenntnis genommen wurde. Alle acht Protagonisten stehen nicht als Laienschauspieler auf der Bühne, sondern als sie selbst, Menschen mit Erinnerungen, Taten, Gedanken und Visionen.

Was der von Marx analysierte Zusammenhang von Ware und Gebrauchswert meint, wird in der Tauschaktion zwischen dem blinden Call-Center-Agenten Christian Spremberg und Thomas Kuczinsky, einem Statistiker, Wissenschaftshistoriker und Editor, klar. Von 1988 bis 1991 war Kuczinsky Direktor der Akademie der Wissenschaften der DDR. Nun fährt er einen Einkaufswagen mit 13 Bänden der Leipziger Kapitalausgabe von 1953 in Blindenschrift auf die Bühne, um diese gegen die einbändige Version der Volksausgabe einzutauschen. Kuczinskys Schultern hängen schmal in der schwarzen, ausgebeulten Lederjoppe, die dünnen Beine schlurfen über die Bühnenbretter, seine klare und sonore Dozentenstimme dringt erklärend aus dem weißen Rauschebart: “Wir haben getauscht: eine klassische Win-Win-Situation, wie sie auf Seite 90 steht”.

Spremberg steht am Plattenspieler und liefert die Musik zum Stück. Mit zielsicheren Griffen wählt er diverse Schlager aus und kommentiert seine Musikwaren. Dem Betrachter führt er vor Augen, dass unsere Konsum- und Warenwelt durch Marken und Logos und damit durch das Prinzip der Sichtbarkeit geprägt ist. Die Platte mit der ertastbaren “Sonderrille” in seiner Sammlung ist da eine seltene Ausnahme.

Dass der Warenwert dadurch entstehe, dass die Ware durch eine andere ausgedrückt wird (Ware A = Ware B), kommentiert der lettische Filmemacher Talivaldis Margevics mit einer Geschichte, die seine Mutter ihm erst vor zwei Jahren erzählte. In der zehrenden Nachkriegszeit habe eine Frau seine Mutter gebeten, ihr das ausgemergelte Baby zu überlassen, um es vor dem Tod zu bewahren. Margevics’ Mutter weigerte sich, die Frau bot ihr dafür Brot, erst einen Laib, dann zwei, dann Butter, dann Milch. “So wurde ich in meinem Leben selbst schon mal zur Ware”, übersetzt Franziska Zwerg den Abschluss der auf Russisch erzählten Episode.

Neben der ostdeutschen Übersetzerin lernt man auch den Elektriker und ehemaligen Gewerkschafter Ralph Warnholz kennen, der sein gesamtes Vermögen verspielte und heute Spielsüchtigen in einer Selbsthilfegruppe betreuend zur Seite steht, und den ehemals studentischen 68er-Aktivisten Jochen Noth, der in Berlin Geldscheine verbrannte und heute Unternehmensberater und Dozent mit Schwerpunkt Asien und China ist. Neben der 68er-Generation ist auch der 23-jährige Jungkommunist Sascha Warnecke vertreten sowie Ulf Mailänder, der zum Teil in die Rolle des Hamburger Hochstaplers und Anlagenbetrügers Jürgen Harksen schlüpft, dessen Biographie Mailänder geschrieben hat.

Sie alle lassen uns über Kapitalismus und Warenwelt nachdenken, das Leben im Allgemeinen und die individuellen Erlebnisse der Einzelnen. Wetzel und Haug bieten ungekünstelte Kunst, eine Dramaturgie, die dem Leben Form gibt, ohne es zu ver- oder überformen und machen so das Theater tatsächlich zu einem Ort menschlicher Begegnung.

Als nach 100 Minuten das Licht auf der Bühne erlischt, wieder angeht und die “Selbstdarsteller” sich verbeugen, toben die Besucher. Im Gegensatz zum Beginn diesmal alle und vor Begeisterung.

von Na Young Shin

1 Leserbrief | RSS-Abo

1. Kafriepon schreibt:
8. September 2008 (13:23 Uhr)

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