Kurzinterview mit Rimini Protokoll

By Die Redaktion

11.10.2022 / https://groove.de

Wer derzeit die Kunsthalle Mannheim besucht, findet sich in einer großen Installation wieder – der URBAN NATURE. In ihr gehen die Besuchenden durch detailgetreu rekonstruierte Szenerien und Orte der Großstadt und nehmen dabei gleichzeitig die Rollen spezifischer Protagonist:innen ein.

Die Großstadt, das ist für das Kollektiv Rimini Protokoll – bestehend aus Helgard Haug, Dominic Huber, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel – ein „Vergrößerungsglas für die Extreme der Gesellschaft”. Inwiefern die multimediale und interaktive Installation es bewerkstelligen will, die Wahrnehmung dahingehend zu schärfen, die Stadt nicht nur als urbanen, sondern eben auch als naturalen Raum zu denken, erklären Autorin und Regisseurin Helgard Haug und der Szenograf Dominic Huber im Kurzinterview.

URBAN NATURE beschäftigt sich mit Stadtentwicklung, der Nutzung urbaner Räume und zukunftsorientierten Perspektiven. Was genau ist die Intention des Projekts? In welche Richtung werden die Denkansätze der Besucher:innen durch die Ausstellung gelenkt?

Helgard Haug: Seit einigen Jahren leben weltweit mehr Menschen in Städten als im ländlichen Raum. Wir leben dicht an dicht, oft in Konkurrenz um Platz, Bedeutung, Einfluss. Selten im Erkenntnisrausch dessen, wie großartig es ist, so vielfältig zu sein, oder was wir zusammen machen oder verändern könnten. Der Ausgangspunkt der Arbeit waren die Verstädterung und die Frage, welche Naturgesetze in größeren Städten herrschen. Welche sind die ökonomischen Prinzipien? Und wie wäre es, die Rollen zu wechseln und in die Haut einer anderen Person zu schlüpfen, um dieselbe Zeit noch einmal aus einer anderen Perspektive, in einer anderen Logik zu durchleben?

Wie ist die Idee für das Projekt URBAN NATURE entstanden? Gab es einen speziellen Auslöser?

Helgard Haug: Wir haben uns mit der Weiterentwicklung eines Formats beschäftigt, das wir in derselben Konstellation vor einiger Zeit begonnen haben: dem Video-Walk. Die Besuchenden bekommen ein Tablet ausgehändigt und vollziehen das nach, was in dem Film darauf zu sehen ist, der in dem Set gedreht wurde, in dem sie sich gerade befinden. Sie betreten also einen Film, der aus verschiedenen Perspektiven gedreht wurde, lösen sich darin auf und agieren wie die Person, die gedreht hat und deren Leben Grundlage für die Geschichte war. Diese Rezeptionsmöglichkeit wollten wir durch eine weitere ergänzen und dafür dem Einzelnen eine Gruppe zuordnen, die die Außenperspektive wahrt, die der Einzelne oder die Einzelne verliert. Dann ergab sich die Möglichkeit, das gemeinsam mit dem CCCB in Barcelona und der Kunsthalle Mannheim umzusetzen. Oft durchkreuzen und inspirieren sich formale Ideen bei unseren Arbeiten mit inhaltlichen.

Bei dem interaktiven Ausstellungsprojekt schlüpfen die Besucher:innen in die Rollen sieben realer Personen, sogenannter „Expert:innen”. Um welche Figuren handelt es sich dabei konkret?

Helgard Haug: Wir haben vor allem darauf geachtet, dass es sehr unterschiedliche Personen sind und sich ihre Lebensentwürfe und Positionen stark kontrastieren. Jeder Person ist auch einer der Räume zugeordnet; atmosphärisch völlig anders – aber von jedem Raum aus kann man immer auch das Geschehen in den anderen observieren: An dem Brunnen auf einem kleinen Marktplatz begegnet man als Erstes einem Professor für Wirtschafts- und Umweltgeschichte, mit ihm zieht man weiter in eine Obdachlosenunterkunft, um sich hier in eine junge Geflüchtete zu verwandeln, die versucht, ihr Glück in der Stadt zu finden.

Hinter dem Raum mit den vielen Stockbetten befindet sich eine edle Bar – hier wird die Rolle eines Managers eingenommen, der sein Geld in der sogenannten Gig-Economy verdient. In der nächsten Episode sieht man die Stadt durch die Augen eines Teenagers, mit der Frage im Kopf, warum Eltern vor der Stadt warnen und wo die eigentlichen Gefahren lauern. Die fünfte Position ist die einer Anlageberaterin, anschließend landet man in einer Gefängniswerkstatt, einer weiteren Parallelwelt, in der noch mal ganz andere Gesetze und eine andere Ökonomie herrschen. Die letzte Rolle ist die einer alleinerziehenden Mutter, die sich einen halbkriminellen Ausweg aus dem Prekariat gesucht hat.

Nach welchen Kriterien wurde der Standpunkt der Ausstellung ausgewählt? Warum hat man sich für die Kunsthalle Mannheim entschieden, obwohl das vorige Projekt noch in Barcelona stationiert war?

Helgard Haug: Das Projekt wurde von diesen beiden Partnern koproduziert. Das war von Anfang an klar. Die Entwicklung und Eröffnung fand in Barcelona statt und in Mannheim haben wir die Installation dann komplett neu an die völlig andersartigen Räumlichkeiten angepasst und alle Videos neu gedreht.

Inwiefern werden audiovisuelle Medien, Technik und Sound in das Projekt integriert?

Dominic Huber: Besucher:innen erleben – sowohl als Einzelne, mit Tablets und Kopfhörern ausgestattet, als auch in Gruppen, die der Ausstellung folgen – ein komplexes Gefüge von Räumen, Videobildern und Sound. Im Hintergrund läuft ein präzise getaktetes System von Video-, Ton- und Lichtsignalen auf einer gemeinsamen Timeline, die eng an die Bewegung und Situationen der Besucher:innen angebunden ist. Der Besuch von URBAN NATURE erinnert so an die Wahrnehmungswelt in unseren Städten: Räume und Begegnungen werden sowohl real als auch medial vermittelt und erlebt, die Grenzen zwischen privat und öffentlich, zwischen individueller und gemeinsamer Erfahrung verschwimmen.

Seit einigen Jahren arbeitet Rimini Protokoll mit Ihnen als Szenografen zusammen. Sie wirkten auch am neuen Projekt URBAN NATURE mit. Was macht die Umsetzung einzigartig?

Dominic Huber: URBAN NATURE unternimmt den Versuch, den Erfahrungs- und Lebensraum einer Stadtbevölkerung auf verschiedenen Ebenen abzubilden, in sich zu verschränken und unmittelbar erfahrbar zu machen. Die gewählten Mittel bedingen sich gegenseitig und sind im Erlebnis der Installation nicht zu trennen: die Räume, darin eingeschriebene konkrete Vorgänge und Situationen sowie die Narrationen der unterschiedlichen Protagonist:innen. Szenografie ist dabei nicht nur die Ausgestaltung von Räumlichkeiten und Oberflächen, sondern immer eine im zeitlichen Ablauf und situativ erlebbare Erzählstruktur.


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