Kunst genug

35 Stimmen, wie ich sie dem Theater wünsche

By Stefan Kaegi

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Die Bass-Stimme von Herrn Sellenschloh vom Hygieneinstitut Hamburg, wenn er sich über einen Schreibtisch voll Mücken beugt, um den Schädlingen den chemischen Krieg zu erklären.

Die Stimme des Münchner Hochenergiephysikers, der auf Konferenzen das englische Wort "Particle" so bayrisch ausspricht, dass man meint, er spreche von Weißwurst.

Die Stimme des Simultanübersetzers Doempke in Brüssel, die Wort für Wort der Stimme des europäischen Abgeordneten folgt. Immer wenn der Redner einen Witz macht, sagt Doempke: Achtung jetzt macht er einen Witz. Den kann ich nicht übersetzen, aber bitte lachen Sie trotzdem – aus Höflichkeit.
 
Die viel zu hohe Stimme des Planespotters Michel Delaine, die quietscht, wenn er  sich erinnert, wie er die Concorde knippste – aber die Airforce 1 um Sekunden verpasste.

Das Gebell von zwei Hunden, die bei einer Freilichtaufführung von Die Zofen die Bühne stürmen, um zwei hysterische Schauspielerinnen zu vertreiben.

Die Brüllaffen im Urwald von Palenque, Mexiko.

Die Stimme, des NLP-geschulten Managers, die der Stimme seines Gegenübers immer ähnlicher wird, wie ein Mäusebussard, der immer engere Kreise über sein Opfer zieht.

Das Schmatzen von Kornkäfern, das Professor Reichmuth mit einem speziell entwickelten Mikrofon und Kopfhöhrern in Getreidesilos aufspürt.

Die Stimme einer Zuschauerin mit Schluckauf.

Die Stimme des Gerichtszuschauers und Calvinisten Detlev Weisgerberber, der im Gespräch immer leiser wird, weil er sicher ist, dass ihn schon jemand hören wird. Er fürchtet nichts mehr als Überdeutlichkeit.

Die Rülpser eines seit 20 Minuten toten Körpers, der noch gährt.

Die Stimme eines bekifften Historikers, dessen Lachen, so kurzatmig wird, dass es ihn schüttelt.

Die Stimme eines verwirrten Menschen, der noch vor dem Ende des Satzes vergisst, wie der Satz begonnen hat.

Die Stimme einer Souffleuse unter der Bühne.

Die von Ina Kleine-Wiscott wiederentdeckte Synchronstimme von Marilyn Monroe, die mittlerweile in den Frankfurter Strassenbahnen die Haltestellen ansagt.

Die Stimmen eines ganzen Busses voller Taubstummen in Zürich.

Die enthemmte Stimme eines fremden Menschen am Telefon – Sie weiss nicht, wie ich aussehe.

Die Stimmen von 100 Indern in einem Callcentre bei Kalkutta. "Hello, Mrs Jones, I have a very good message for you..." Die indischen Telefonisten melden sich mit "Kevin" oder "Caroline" und entlocken potentiellen Kunden in und um London mit auswendig gelerntem südenglischen Akzent Informationen über Einkunft und Konsumverhalten unter dem Vorwand, eine Reise zu verschenken (Nachher stimmt immer etwas mit der Adresse nicht, so dass die Reise doch leider jemand anders gewonnen hat).

Die Stimme einer Telefonseelsorgerin, die oft über 20 Minuten schweigt, nur schweigt - damit die Leitung nicht abbricht, damit jemand da ist.

Die Stimme bevor es das Telefon gab: Schweizer Bauern sangen ihre Botschaften durch einen Milchtrichter von Berg zu Berg.

Die Stimme einer Zuschauerin mit Schluckauf (wird sie bleiben?).

Die Stimme meiner Grossmutter. Ihr Leben hat sich auf ihren Stimmbändern eingeschrieben wie eine Krankheitsgeschichte auf Fingernägeln. Jede Rauheit ist eine Erfahrung, jedes Quietschen eine biographische Narbe.

Die Stimme eines Hamburger U-bahnkontrolleurs, deren abgehackter Kommandoton immer seine Vergangenheit in der Bundeswehr verraten wird.

Die Stimme aus dem Kopfhöhrer, ganz nah am Ohr.

Die Stimme vom Walkman, die dem Zuschauer unserer Audiotouren einen Weg aufdrängt, ihn zur Kamera seiner eigenen Aufführung macht. Eine funktionale, Paranoia erzeugende Stimme.

Die Stimme der Grossmutter einer Freundin auf ihrem Telefonbeantworter: 20 mal hat sie neu gewählt, immer wieder nach Sabine gerufen und nicht verstanden, dass das Band auf der anderen Seite nicht ihre Enkelin war.

Die Stimme meines Grossvaters, wenn sein Gebiss nicht sass, wie die Zähne seinen Worten hinterherklapperten.

Die in mir nachhallende Stimme, von jemandem, der nicht mehr da ist.

Das Tonband mit der Stimme meiner Mutter, das bei der Bestattung an ihrer Stelle zu uns sprach.

Die Stimme, wie sie sich Elias Canetti für seine Ohrenzeugen dachte.

Die Stimme von Moderatoren freier Radiosender, wenn sie Fehler machen, wenn sie stottern, oder wenn Schweigen gesendet wird, weil der Track früher als erwartet zu Ende ist.

Die Stimme auf der CD meines Polnischbuches.

Die Stimme eines Kanarienvogels, der ein Mobiltelefon nachahmt.

Die digitale Stimme Albert, mit der mir mein Rechner E-Mails vorliest.

Die Stimme von Kris Depoorter, einem arbeitslosen Steward, der mit dem Ton am Ende seiner Sätze oben bleibt, als hätte er noch etwas zu sagen.