Karl Marx war kein Dramatiker.

Dennoch wurde sein Hauptwerk für die Bühne adaptiert

By Marina Dawydowa

16.10.2010 / Iswestija

Auf dem Theaterfestival „Territorija“ in Moskau wurde die Inszenierung der bekannten deutsch-schweizerischen Gruppe Rimini Protokoll „Karl Marx. Kapital. Band Eins“ gezeigt.
Wie sich herausstellte, kann man, wenn man möchte, eine anderthalbstündige Erörterung des politökonomischen Kapitalismus in ein unterhaltsames Schauspiel verwandeln.


Wer von uns hat den alten Marx gelesen?!
Hand aufs Herz – fast niemand hat ihn gelesen. Bestenfalls hat man in seinen Büchern geblättert. Schlimmstenfalls hat man sich mit Zitaten aus Schulbüchern zufrieden gegeben.
Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, dass es unermesslich mehr Menschen gibt, die weder Hegel noch Feuerbach, Adam Smith oder David Ricardo gelesen haben, als solche, die Karl Marx nicht studiert haben. Doch erlaubt man über Smith und Feuerbach keine Meinung, wenn man sie nicht kennt. Marx zu deuten ist hingegen selbst ein Faulenzer willens. Seine Lehre ist allmächtig, weil sie allen zugänglich gemacht wurde. Genauer, weil man sie leicht zugänglich machen kann. Weil sich daraus mühelos Losungen herausschälen lassen. Weil der Autor des „Kapitals“ seine gewitzten theoretischen Postulate und Formeln schlussendlich in eine Anleitung zum Handeln umgewandelt hat.
Kaum wäre die Erläuterung des Mehrwertgesetzes (dessen Formulierung gar nicht von Marx, sondern von seinen Vorgängern stammt) seinerzeit in intellektuellen Kreisen so beliebt gewesen, wenn sich hinter der extrem wissenschaftlichen Terminologie und Formelhaftigkeit des deutschen Denkers nicht der Feuerschein der Revolution abgezeichnet hätte.


Auf den ersten Blick haben die Autoren des Stücks, Helgard Haug und Daniel Wetzel, ein Spektakel des „Neulesens“ geschaffen, das die Aktualität der marxistischen Ideen in einer Welt zeigen will, in der das Kapital den Ton angibt. Ein großer Teil des Bretterbodens wird von einem fast über die gesamte Bühnenbreite reichenden Bücherregal eingenommen, in dem die gesammelten Werke von Marx, Engels, Lenin und sogar Stalin versammelt sind. Letztere wechseln mit Wimpeln für hervorragende Arbeit, Mao Zedong-Büsten und sonstigen Paraphernalias der Revolution. Die durch den Schrank auf den schmalen Streifen der Vorbühne verdrängten acht Mitwirkenden des Stücks probieren die Marxschen Postulate am eigenen Leben aus und erzählen gleichzeitig über das, was sie erlebt haben.An dieser Stelle ist eine wichtige Sache zu klären …

Es ist nämlich so, dass die Mitwirkenden aller Inszenierungen von „Rimini Protokoll“ (einst von Helgard Haug und Daniel Wetzel zusammen mit Stefan Kaegi gegründet) nie Schauspieler sind. Bei ihnen wird generell auf das Prinzip der Verwandlung verzichtet. Die Menschen in den Oeuvres des bekannten Dreigespanns stellen stets sich selbst dar und sprechen über sich. So dass bereits das Casting für „Rimini Protokoll“ einen aufschlussreichen Sinn hat.


In gegebenem Fall kommen auf der Bühne zusammen: Thomas Kuczinski, der letzte Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der DDR, der Marx und sein „Kapital“ gefressen hat; Talivaldis Margevics aus Riga, ein Kämpfer gegen die Zensur in sowjetischen Zeiten, der in den 90er Jahren Berater des lettischen Präsidenten war (im Stück spricht er Russisch); Jochen Noth, ein typischer Linker der 60er Jahre, der öffentlich Geld verbrannte, zum überzeugten Maoisten wurde und in China arbeitete; Franziska Zwerg, die Boris Jelzins Memoiren ins Deutsche übersetzt hat; Ralph Warnholz, der sein gesamtes Geld in Spielautomaten steckte; Christian Spremberg, ein blinder Callcenter-Agent, der davon träumt, eine Million in einem Fernsehquiz zu gewinnen …

Aus der Verflechtung der Schicksale und Stimmen dieser sehr unterschiedlichen Menschen, die sich vor Beginn der Proben offensichtlich nicht kannten, setzt sich das Stück zusammen. Und irgendwie scheint sich jedes dieser Leben – sowohl Kuczinskis, der munter den Klassiker zitiert, als auch des ausgelassenen Warnholz‘, der sicher nie das „Kapital“ in den Händen gehalten hat – auf die eine oder andere Weise den von Marx postulierten Gesetzen zu unterwerfen. Doch würde dieses geistreiche Stück nur in die Behauptung münden, dass die vom berühmten Wirtschaftwissenschaftler in seiner mustergültigen Arbeit beschriebene kapitalistische Gesellschaftsordnung im Grunde unverändert ist und dass die Lehre von Marx ungeachtet der russischen, chinesischen, kambodschanischen und anderer Verfälschungen immer noch allmächtig ist, dann bliebe es nur ein mit theatralischen Mitteln erzähltes, politisches Pamphlet.
In der Aufführung von „Rimini Protokoll“ klingt indes ein anderer Gedanke an. Dieser klärt sich in dem Maße auf, wie die Erzählung vom Ende der 40er Jahre voranschreitet zum Jahr 2000 (die Jahre stehen auf Seiten des „Kapitals“ und leuchten auf Monitoren auf). „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie // Und grün des Lebens goldner Baum“ – auf diesen Gedanken eines anderen großen Deutschen kommt man beim weiteren Nachdenken. Denn die launenhaften Wendungen in den Schicksalen der grundverschiedenen Menschen sind in keine Formel zu fassen. So wenig wie ihre Neigungen, wie ihre Versuche, die Situation zu meistern, wie ihre leidenschaftlichen Proteste gegen die Ungerechtigkeit.

Sie stehen nebeneinander – ein junger Mann, der die multinationalen Korporationen brandmarkt, und ein älterer Herr, der vom Maoismus enttäuscht wurde, ein Spieler, der seiner unheilvollen Leidenschaft abgeschworen hat, und ein Marxist, der sich sein Exemplar des „Kapitals“ ans Herz drückt. Sie alle haben Platz auf dieser engen Bühne und versuchen niemandem etwas zu beweisen. Offenbar haben sie schon verstanden, dass im Unterschied zu einer Elle Leinwand, die sich mit drei Maß Bier oder einem Bücherregal in Verhältnis setzen lässt, das Leben eines Menschen nur an sich selbst gemessen werden kann. Im Gegensatz zu Leinwand, Erdöl und Gas kann es durch keinen Gegenwert ausgedrückt werden. Auch wenn es wahrscheinlich trotzdem seinen Preis hat.


Marina Dawydowa
Iswestija, 16.10.2010
Übersetzung: Franziska Zwerg


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Karl Marx: Capital, Volume One