Im Körper des Soldaten, in der Seele der Kriegsopfer

By Kaspar Heinrich

21.08.2013 / Spiegel online

Im neuen Stück der Theater-Gruppe Rimini Protokoll schlüpft der Zuschauer mit Hilfe des iPad in Rollen unterschiedlicher Menschen, die eines eint: Ihr Leben wird durch Waffen bestimmt.

Am 2. Mai 2011 schaut ein Dutzend Menschen gespannt auf einen Bildschirm. US-Präsident Barack Obama ist mit dabei, sein Stellvertreter Joe Biden und Außenministerin Hillary Clinton. Es gibt ein Foto von diesem Augenblick, in dem Osama Bin Laden getötet wurde und der per Videoübertragung in den "Situation Room" des Weißen Hauses geschickt wurde.

Mehr als zwei Jahre später feiert ein Stück der Theatergruppe Rimini Protokoll Premiere. Der Titel: "Situation Rooms". Schauplatz ist diesmal nicht Washington D.C., sondern Bochum. Im Rahmen der Ruhrtriennale läuft es von diesem Freitag an in der Jahrhunderthalle. "Den Titel haben wir gefunden, als wir schon bei der Entwicklung des Stücks waren", sagt Helgard Haug, die mit Stefan Kaegi und Daniel Wetzel das Rimini Protokoll bildet.

"Wir haben das Bild aus dem Situation Room herbeizitiert, als wir gemerkt haben, wohin wir mit unserer Arbeit steuern." Darin geht es um Waffen. Um jene Menschen, die unter ihnen leiden, und um die, die von ihnen profitieren. Um Kriegsopfer und Rüstungsmanager.

Gleiche Muster in einer anderen Perspektive

Nur zwanzig Zuschauer können sich gleichzeitig das Stück ansehen. Jeder von ihnen bekommt zu Beginn ein iPad in die Hand. Mit diesem mobilen Bildschirm betritt er ein Filmset, erschaffen von Bühnenbildner Dominic Huber. In jedem Raum riecht es anders, auch die Temperaturen ändern sich. "Man wechselt nicht nur den Kontext, sondern auch die Länder, auf die Bezug genommen wird", sagt Haug.

Die Zuschauer schlüpfen in jedem Raum in eine andere Rolle. Unterstützt werden sie dabei von Filmen, die auf ihrem iPad laufen. So sind sie plötzlich Kindersoldaten im Kongo oder Waffenfabrikanten in der Schweiz. Sie werden zu einem pakistanischen Menschenrechtsanwalt und einem indischen Kampfpiloten. Nach sieben Minuten in einer Rolle springen sie in der Zeit zurück und wechseln in den nächsten Raum. "Man ist in einem Uhrwerk, in dem immer die gleichen Muster ablaufen - die man aber aus einer jeweils anderen Perspektive erfährt", sagt Haug.

Helgard Haug und ihre beiden Mitstreiter Stefan Kaegi und Daniel Wetzel wollten unvereinbare Positionen in einem Gebäude versammeln. Völlig verschiedene Biografien, die allesamt durch Waffen bestimmt werden. "Man beginnt, die Logik eines Menschen zu durchsteigen, der in einem anderen Kontext lebt oder arbeitet als man selbst", erklärt Haug die Idee hinter dem Rollenspiel. Was etwa ist die Logik eines Managers, der in einem Schweizer Rüstungskonzern arbeitet? Wie macht er sich und seinem Gegenüber plausibel, was er täglich tut? Das Interesse für konträre Meinungen soll durch "Situation Rooms" geweckt werden.

Reisen, lesen, recherchieren

Vor drei Jahren begannen Rimini Protokoll, mit sogenannten Video-Walks zu arbeiten. Sie inszenierten einen Parcours im walisischen Aberystwyth. Damals noch im Stadtraum. "Da kann man davon ausgehen, dass irgendwann die Müllabfuhr kommt, ein Hund vorbeiläuft oder jemand einen Laden verlässt", sagt Haug. Aber nichts ließ sich genau timen.

Nun ist das Format dasselbe, nur ist alles komplett durchinszeniert. "Alle Bewegungsmuster könnten perfekt ablaufen, wenn der Zuschauer mitmacht", sagt Haug. Sie nennt "Situation Rooms" eine weitere Experimentierstufe bei der Suche nach neuen theatralen Erzählweisen und fragt: "Was ist ein Darsteller und was ist ein Zuschauer? Im neuen Stück wird man noch viel stärker zum Akteur."

Ihre Anregungen finden Haug, Kaegi und Wetzel außerhalb des klassischen Theaters: Beim Reisen, Zeitungen lesen, Menschen treffen, Recherchieren. "Was wir machen, ist Theater", sagt Haug: "Aber die Produktionsweisen klassischer Inszenierungen und die Arbeit an 'Situation Rooms' haben eigentlich nichts mehr miteinander zu tun." Stattdessen bleiben die Macher von Rimini Protokoll vor allem sich selbst treu, auf ihrem Weg zur Erweiterung des Theaterbegriffs.
 


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