Ein Lastwagen voller Lebensgeschichten

"Cargo Sofia-Berlin": Stefan Kaegi und das HAU laden zur imaginären Fahrt durch halb Europa

By Katrin Pauly

24.06.2006 / Berliner Morgenpost

Svetoslav gibt Gas. Es rumpelt, der 15 Jahre alte Volvo FL10 Intercooler schwankt leicht. Aber Svetoslav Michev hat die mehr als 15 Tonnen bestens im Griff. Neben ihm auf dem Beifahrersitz wippt Kollege Ventzislav Borissov. Die beiden Bulgaren haben schon alles Mögliche transportiert: Fisch von Bodrum nach Madrid, Autoteile, Pilze, Rohre. Heute haben sie Geschichten geladen. Und Menschen, die hören wollen, also wir!

Knapp 50 Zuschauer drängen sich in Längsrichtung dreireihig hinten auf der Ladefläche des geschlossen Trucks. Stefan Kaegi von der Wirklichkeitserkundungstruppe "Rimini Protokoll" schickt uns in "Cargo Sofia-Berlin" auf große Fahrt: Bulgarien-Serbien-Slowenien-Kroatien-Italien-Schweiz-Berlin. Fünf Tage würde die Tour dauern, wir bekommen die Realität, zusammengedampft auf zwei Stunden.

Es riecht nach Diesel. Mehr als 300 PS rattern unter unseren Sitzbänken. Wir rollen durch Kreuzberg. Und sehen Sofia. Die bulgarische Stadt zieht exakt in unserem Fahrtempo per Video an der Längswand des Wagens vorbei. Irgendwann fährt die Rollwand an der Längsseite hoch, wir sitzen hinter einer Glasscheibe mit freiem Blick nach draußen. Kalotina, Grenze Bulgarien/Serbien zeigt ein schmaler Leuchtstreifen an. Durchaus möglich: Ein leeres Abfertigungshäuschen, Schilder überall, Laderampen. Flughafen Tempelhof. Svetoslav und Ventzislav erzählen von Bestechungsgeldern: Pro Grenze mindestens ein Päckchen Zigaretten als Bakschisch für die Zöllner. Und gegen ein Playboy-Heft gibt's im Iran eine ganze Tankladung Diesel.

Wir fahren weiter auf die Autobahn, ernten Blicke von vorbeiziehenden Fahrern, die unseren Schaukasten nicht begreifen. Zwischenstop auf dem Rasthof Avus. Unsere beiden Fahrer (zusammen haben sie mehr als 50 Jahre echte Fernfahrererfahrung) erklären an parkenden Beispielen ihre Lieblingstrucks. Via Headset sind sie während der Fahrt in den Laderaum geschaltet. Sie erzählen aus ihrem Leben, zeigen Bilder der Frau (die vor jeder Fahrt Buletten brät, weil das Essen unterwegs so teuer ist), Bilder der Kinder. Die Sehnsucht fährt immer mit. Und manchmal wird sie konkret. Mitten auf dem Jakob-Kaiser-Platz steht sie (Alexandra Dimitroff) mit ihrem Akkordeon.

Wieder Grenzen, wieder Laderampen, inzwischen auf dem Berliner Großmarktgelände. Herr Warnke von der Spedition BOS zeigt uns eine Ladung frischer Hühner: "Die haben heute mittag noch gelebt". Projektleiter Kaegi bringt uns viele Facetten dieses bewegten Gewerbes nahe. Doch die Geschichte von Fuhrunternehmer Willi Betz, der offenbar jahrelang osteuropäische Fahrer zu Dumpingpreisen ausbeutete, überzeugt nicht so wie der Charme des lebensechten Personals. Die Bilanz am Ende der imaginären Tour: 3200 verfahrene Kilometer, 1200 Liter Diesel und: 100 Euro pro Nase für fünf Tage Arbeit.

 


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