Ein Gespräch über Wolfgang Thierse und die Würde des Bundestags

mit dem Kultusminister von Nordrhein-Westfalen Michael Vesper, mit Matthias Lilienthal (Programmleiter Theater der Welt) und drei Künstlern von «Rimini Protokoll», Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel.

By Theater der Welt

01.06.2002 / Theater heute 06/02

Ja, mach nur einen Plan!

Für das Festival Theater der Welt im Juni wollte die Künstlergruppe «Rimini Protokoll» (Bernd Ernst, Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel) im alten Bonner Plenarsaal unter dem Titel «Deutschland 2» die Vertretbarkeit der Volksvertreter testen: Wo der 14. Deutsche Bundestag bis vor zwei Jahren tagte, sollten
Bonner Bürger für eine einzige Sitzung die Berliner Repräsentanten vertreten und den Text der Debatte im Reichstag live nachsprechen. Dann aber hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der «Würde und Ansehen des Bundestags» in Gefahr sieht, die Nutzung des Bonner Altparlaments verboten.
Der Amtsschimmel wiehert? Ein Gespräch mit Michael Vesper, Minister für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, der das Projekt vehement befürwortet.
Thierses Veto wird «Deutschland 2» nicht verhindern. Die Volksvertreter-Vertretung tritt am 27. Juni ab 9 Uhr
zusammen, wo auch immer. Es sind noch Plätze frei. Wer seinen Lieblings-Abgeordneten repräsentieren will, kann sich bewerben: 0221/51090922. Näheres unter www.deutschland2.info

Theater Heute Herr Vesper, Sie haben sich sehr
mutig in die Bresche geworfen für das Projekt «Deutschland 2», das im ehemaligen Bonner Plenarsaal
stattfinden sollte. Es war geplant, am 27. Juni die Sitzung des Deutschen Bundestags in Berlin nach Bonn zu übertragen und dort von Bonner Bürgern nachsprechen, nachspielen zu lassen. Leider hat der Präsident des Deutschen Bundestags, Wolfgang Thierse, von seinem Einspruchsrecht Gebrauch gemacht und die Nutzung des Bonner Plenarsaals untersagt, weil er «Ansehen und Würde des Deutschen Bundestags» in Gefahr sieht. Was hat Ihnen Herr Thierse denn auf Ihren Brief geantwortet?
Michael Vesper Leider hat sich Wolfgang Thierse meinen Argumenten verschlossen. Vermutlich hat seine Verwaltung definiert, was zumutbar ist und was nicht. Ich finde das schade, weil er jemand ist, der nicht nur etablierter, sondern auch schräger, neuer Kunst offen gegenüber steht. Von daher wünschte ich mir bei ihm mehr Mut, ein solches Experiment zuzulassen –wohlwissend, dass im ehemaligen Bonner Plenarsaal auch schon andere Experimente stattgefunden haben...
TH ... zum Beispiel Karnevalssitzungen...
Vesper Das ist kein Experiment, das ist Brauchtum und für mich Teil der Kultur. Bitte keinen kritischen Unterton zum Karneval, ich bin begeisterter Karnevalist!
TH Das Kritische bezieht sich auf die Formulierung «Ansehen und Würde des Bundestages». Da kann man bei Karnevalssitzungen schon mal ein kleines Fragezeichen mitdenken.
Vesper Im Rheinland gibt es kaum etwas so Ernstes wie den Karneval, das dürfen Sie mir glauben. Einschlägig finde ich eher die Sitzung, der Sabine Christiansen präsidiert hat. Hier wurden Parlament und Parlamentarismus bewusst ins Lächerliche gezogen.
TH Ich höre aus Ihrer Antwort heraus, dass Sie versuchen, Herrn Thierse gegen seine Verwaltung in Schutz zu nehmen. Aber Wolfgang Thierse hat es untersagt und zwar mit Formulierungen – ich habe hier einen Brief an die Bonner Oberbürgermeisterin – in bestem polizeilichem Apparatschik-Deutsch: «Gestützt auf die Vereinbarung unter anderem mit der Stadt Bonn widerspreche ich der Durchführung der Veranstaltung.»
Vesper Vermutlich hat die – als notorisch ängstlich bekannte – Bundestagsverwaltung definiert, was sie für zumutbar hält und was nicht. Und der Präsident hat daran dann seinen Haken gemacht. Der Text strotzt doch genau von dem Bürokratendeutsch, dessen sich deutsche Verwaltungen bedienen. Trotzdem ist natürlich Thierse verantwortlich, aber ich weiß, wie Verwaltungen funktionieren.
TH Das entschuldigt nicht, was aus Verwaltungen
herauskommt.
Stefan Kaegi Entsetzlicher als Karnevalsveranstaltungen im Bundestag finde ich, dass Automobilverbände und große Firmen ihre Generalversammlungen sehr wohl dort abhalten und sich schmücken dürfen mit der Aura der Macht.
Die einmalige Chance
TH Thierse äußert die Befürchtung, der alte Bonner Plenarsaal werde als «Kulisse» missbraucht. Das klingt nach einem wackeligen, verstaubten Kulissenschieber- Bühnenbild. In «Deutschland 2» geht es jedoch darum, dass man einen echten Plenarsaal, in dem einst Volksvertreter saßen, benutzt, um diese Volksvertreter einmal umgekehrt vom Volk vertreten zu lassen. Also gerade keine Kulisse aufstellt, sondern die Realität eines Raums benutzt.
Daniel Wetzel Eine Kopie, die nur bis September und nur in diesem Raum möglich ist, weil dann die Bundestagssitze neu verteilt werden. Im Moment tagt noch der 14. Bundestag, der zwar nach Berlin umgezogen ist, aber noch seine Sitzverteilung in Bonn hinterlassen hat. Das heißt, im Moment gibt es noch die historisch einmalige Situation, dass es für dasselbe Plenum zwei Räume gibt; das Plenum benutzt nur den einen in Berlin.
Helgard Haug Wir suchen für die 666 Bundestagsabgeordneten Vertreter aus Bonn und Umgebung. Also Leute, die sich dafür interessieren, einen Tag lang live die Bundestagsdebatte, die in Berlin stattfinden wird, über ein Dolmetscherverfahren nachzusprechen.
Vesper Ich kann Sie beruhigen, Sie brauchen keine 666, so viele sind nie im Raum. (Gelächter)

Haug Wir wollen gerne vollständig sein.
Matthias Lilienthal Grundsätzliches Thema von Rimini Protokoll sind ja Kopierverfahren als künstlerisches Verfahren. Was ist, wenn man die Sitzung, die in Berlin stattfindet, kopiert, indem sie durch den Körper und den Mund von Bonner Bürgern geht? Da tritt ein ganz merkwürdiger Effekt ein. Rein technisch gesehen würde es so laufen, dass die Debatten auf Infrarot-Kopfhörer übertragen werden. Die Leute hören praktisch den Ton übers Ohr, und eine Sekunde später sprechen sie ihn
nach. Wir haben sehr früh mit sogenannten Castings angefangen, also Proben mit 60–80 Leuten. Das Überraschende war, dass es tatsächlich funktioniert. Dann wurde das Projekt zum ersten Mal publiziert, und innerhalb von drei Stunden haben sich 150 Leute am Telefon gemeldet.
Vesper Was sind das für Leute?
Kaegi Sie haben ja vorhin gesagt, die Bonner Bürger spielen die Abgeordneten. Das trifft nicht ganz den Punkt. Als wir bei den Castings die Leute befragten, warum sie denn mitmachen, haben wir zum Beispiel einen Taxifahrer gefunden, der den Abgeordneten Klose spielen will. Weil Herr Klose einmal bei ihm im Taxi mitgefahren ist und er ihn sympathisch fand. Er möchte für Klose einstehen, viel mehr als ihn spielen. Er möchte ihn vertreten.
TH Also kein kabarettistisches Interesse, sondern eine Bewunderung für den Mann: Jetzt will ich mal Klose sein.
Haug Zum Teil wollen die Leute Bundestagsabgeordnete aus Sympathie vertreten, es gibt aber auch andere. Da gibt es Teilnehmer, die ihrem Körper die Stimme von jemand geben wollen, von dem sie sich möglichst weit entfernt fühlen.
Vesper Vielleicht auch eine Art Sehnsucht, einmal am Rednerpult des Deutschen Bundestags zu stehen.
Wie würdevoll sind Bundestagsdebatten?
TH Standen Sie da auch schon mal?
Vesper Ich bin ja Mitglied des Bundesrates, also spreche ich auch gelegentlich im Bundestag. Insofern kann – oder besser gesagt: muss ich ja diese Sehnsucht ausleben. Ich bin übrigens nicht ganz sicher, ob Ihr Projekt am Ende ein Erfolg wird, oder ob es nicht doch in affektiertes Kabarett umschlagen kann. Aber neugierig bin ich – und deshalb dafür.
TH Was wäre denn für Sie ein «Erfolg»?
Vesper Wenn es gelänge, Politik auf neue Art und Weise zu reflektieren. Indem man das, was in der Politik gesprochen wird, von anderen sprechen lässt, kann es in totaler Konsequenz auf den Kern heruntergebrochen werden.
TH «Heruntergebrochen» – da schwingt eine Befürchtung mit.
Vesper Vielleicht. Um diese Befürchtung geht es, wenn Herr Thierse die Würde in Gefahr sieht. Vielleicht ist nämlich manches, was dort gesprochen wird, nicht immer wirklich würdevoll. Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Menschen von Politik abwenden, was ich verheerend finde. Ohne Menschen, die sich politisch engagieren, sähe diese Gesellschaft anders aus. Ich würde mir wünschen, dass dieses Projekt die Leute nicht noch weiter wegbringt von der Politik, sondern eher dazu beiträgt, sie hinzuführen.
Lilienthal Rimini Protokoll hat parallel zum Casting die Leute einzeln per Video aufgenommen und gefragt: «Wer ist ihr Lieblingspolitiker, welchen Politiker wollen Sie vertreten? Welches Verhältnis haben Sie zum Bundestag? Was für ein Verhältnis haben Sie zu Politik?» Das Schöne oder manchmal auch Verwunderliche war, dass die Teilnehmer ein positiv besetztes Verhältnis zu diesen Fragen haben. Weit entfernt von meiner eigenen zeitgeistigen Meinung, nach der Politik etwas Marginalisiertes ist. Zu der Frage nach dem Kabarett: Wenn man einen Text nachredet, den man in dem Moment hört, hat man als Laie gar keine Chance, ihn zu gestalten. Es fließt durch einen hindurch. Man ist gar nicht im Stande, eine kabarettistische Nummer daraus zu machen. Wenn man das gewollt hätte, hätte man 20 Schauspieler genommen, die wären tendenziell dazu in der Lage. Aber es ist nicht das Ziel eines solchen Projektes oder des Festivals, irgendwelche dummdreisten, vorgefassten Meinungen zu illustrieren. Wenn es so wäre, fände ich das zum Kotzen langweilig. Es ist mehr der Gedanke daran, was Beuys mit seinen sozialen Installationen in den sechziger und siebziger Jahren gemacht hat. Und nun entwirft eine Generation von heute 25–30-Jährigen mit ihrem Instrumentarium eine soziale Ver- suchsanordnung. Das finde ich das Spannende daran. Was mich erschreckt hat, waren die Äußerungen aus der Umgebung von Wolfgang Thierse zu dem Thema: Erstens, es ist keine Kunst...
Vesper Der Spruch ist alt!
Lilienthal ... und zweitens, jetzt gerade, nach der Spendenaffaire in Köln, wo das Ansehen der Politiker so beschädigt ist, können wir uns das nicht leisten. Da wäre die Argumentation genau das Gegenteil. Gerade, wenn solche Sachen wie in Köln passieren, muss man auch eine Chance haben, dass die Volksvertretung für eine Sekunde in einem künstlerischen Akt an das Volk zurückgegeben wird.
TH Wolfgang Thierse schreibt: «Ich habe die Sorge, dass durch das unmittelbare Nachstellen parlamentarischen Handelns am historischen Ort die Bedeutung der eigentlichen Plenardebatte im Deutschen Bundestag in den Hintergrund gedrängt wird.» Herr Vesper, wenn ich Sie richtig verstehe, ist es Ihre Befürchtung, dass sie eher in den Vordergrund gedrängt wird. (Gelächter) Köln ist ja noch ein sehr junges Ereignis. Vielleicht sollte man einmal auf den Vorlauf der ganzen Geschichte zu sprechen kommen. Der ganze Briefwechsel liest sich ja
wirklich wie Real-Kabarett.
«Ich wünsche viel Glück»
Lilienthal Vor anderthalb Jahren habe ich den ersten Brief an Herrn Thierse geschrieben, habe das Projekt dargestellt und habe ihn um Unterstützung gebeten. Ein halbes Jahr später hat er darauf zurückgeschrieben, dass sie das Projekt aufgrund von Zeitmangel leider nicht direkt unterstützen können. Unterschrieben wurde von Herrn Dr. Kaernbach von der Kunstkommission des Deutschen Bundestages.
TH Ich zitiere wörtlich: «Aufgrund vielfältiger politischer
Inanspruchnahme ist es dem Präsidenten
des Deutschen Bundestages leider nicht möglich,
Ihnen bei der Verwirklichung behilflich zu sein.»
Das klingt, als ob er überlegt habe, sich täglich und
tätig zur Verfügung zu stellen. Aber das war ja gar
nicht gefragt...
Lilienthal ... darunter steht noch: «Ich wünsche Ihnen bei dem Festival viel Glück».
TH Dann gab es eine lange Pause. Am 26. Februar
kommt dann plötzlich die Absage.
Lilienthal Dazwischen liegt ein formaler Akt. Der Plenarsaal wird inzwischen vom Maritim Hotel als Kongress-Saal betrieben. Wir haben einen Mietvertrag abgeschlossen, haben den Saal für zwei Tage angemietet für die nicht geringe Summe von 20.000 DM.
Vesper Schon bezahlt?
Lilienthal Der Vertrag ist unterschrieben. Er enthält eine Klausel, dass er nur Gültigkeit erlangt, wenn kein Veto von Seiten des Präsidiums des Deutschen Bundestags, vertreten durch die Bonner Oberbürgermeisterin, erhoben wird. Dann passierte Folgendes: Dadurch, dass uns 3sat gedrängt hatte, sehr
früh anzufangen, haben wir versucht, über «Bonner Generalanzeiger», «Bonner Rundschau» und «Kölner Stadtanzeiger» Menschen für das Projekt zu interessieren. Das muss jemand aus dem Präsidium des
Deutschen Bundestags mitbekommen haben, muss sich echauffiert und Druck gemacht haben. Daraufhin hat Herr Thierse die Anweisung an die Oberbürgermeisterin geschrieben. Meine erste Reaktion war: «Warum regen Sie sich darüber auf, ich habe Ihnen doch vor über sechs Monaten geschrieben, und Sie haben mir einen freundlichen Brief zurückgeschrieben. » Dann gab es eine Reaktion der Bonner Oberbürgermeisterin, die uns sehr unterstützt hat. Die wurde zwei Wochen später durch eine unangekündigt herausgegebene Pressemitteilung des Deutschen Bundestags, die diesen Brief an Frau Dieckmann veröffentlicht hat, abgebogen. Herr Thierse hat zahlreiche Angebote unsererseits zu einem Gespräch nicht angenommen. Nur Antje Vollmer, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, hat sich mit mir zusammengesetzt...
Vesper Ist sie dafür?
Lilienthal Sie ist dafür. Ich habe ihr das Projekt geschildert, und sie hat mir nicht richtig geglaubt. Dann habe ich gesagt: «Frau Vollmer, lassen Sie uns das Video von den Proben anschauen.» Darauf sie: «Ich will kein Video anschauen, ich hasse Videos.» Dann hat sie immer geredet: «Ja, aber Schlingensief hat, Schlingensief hat, Schlingensief hat.» Da habe ich gesagt: «Das sind ganz andere Menschen, die haben gar nichts mit Schlingensief zu tun und das Projekt auch nicht.»
TH Schlingensief findet sie gut?
Lilienthal Schlingensief findet sie toll, aber im Bundestag möchte sie ihn dennoch nicht unbedingt haben. Dann hat sie das Video angeschaut und hat diese älteren Herrschaften gesehen, die da sagen: «Mein Lieblingspolitiker ist Gerhard Schröder und ich möchte ihn darstellen, weil...» Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Dann hat sie gesagt: «Ja, ich rede noch einmal mit Herrn Thierse und versuche mich dafür einzusetzen.»
Aus der Zentrale der Macht
Kaegi Die Bonner, die an dem Projekt teilnehmen wollen, fühlen sich natürlich durch Berlin auch auf den Schlips getreten. Was ist das für eine Geste aus der Zentrale der Macht heraus!
TH Eine Provinzposse aus der Hauptstadt mit obrigkeitsstaatlichem Gestus.
Lilienthal Die etwas Schillerndes bekommt, weil es auf einmal von anderen Parteien getragen wird. Sollen wir jetzt mit Herrn Stoiber zusammen dagegen protestieren, dass Herr Thierse diese Veranstaltung verhindert? Oder mit Herrn Westerwelle? Das fällt uns nicht ganz leicht!
Vesper In solchen Fragen spielt die Parteizugehörigkeit, wenn überhaupt, eine sekundäre Rolle. Ich bin mir fast sicher, dass Herrn Thierses Vorbehalte gegen das Projekt nicht so tiefgreifend sind, wie es in den Briefen zum Ausdruck kommt. Der Präsident des Deutschen Bundestages hat eine sehr starke Position, und aus historischen Gründen ist das auch richtig so. An welchem Ort soll das Projekt denn jetzt stattfinden?
Lilienthal Als Raum steht die Oper zur Verfügung. Wir recherchieren aber auch noch Alternativ-Räume. Die Sitzung als Endprodukt selber ist für uns nicht die entscheidende Sache, sondern die Castings, das Schreiben der Fragebögen und die Äußerungen der Teilnehmer. Das ist für uns der viel wichtigere Prozess.
Kaegi Das Entscheidende ist, dass es überhaupt nichts Sensationelles ist, was wir da vorhaben. Die Politiker aber befürchten...
Vesper ... sagt nie «die Politiker»! Das ist der unpolitischste Ansatz, den man haben kann. Ich sage ja auch nicht «die Regisseure» oder «die Schauspieler » oder «die Theatermacher».
Kaegi Die Politiker, die sich fürchten, scheinen einem Theaterprojekt zu unterstellen, dass es irgendetwas durch den Kakao ziehen will. Gleichzeitig überlassen sie ihre Debatten aber gerne dem Fernsehen, auch wenn Antje Vollmer sagt, sie finde Video gucken blöde. Natürlich ist es für alle, die im Bundestag tagen, wichtig, wo sie sitzen, damit sie von den Kameras gesehen werden. Und es ist auch durchaus in Ordnung, wenn Peymann oder irgendwer politisches Theater macht, aber eben dann aus einem Gestus der Opposition heraus. Wir wollen einfach die Frage der Vertreterschaft und die Frage der Kopie an den Bundestag stellen.
«Wir sind souverän genug, die Herausforderungen zu bestehen»
TH Es steht immer so plakativ «Ansehen und Würde des Deutschen Bundestags» im Raum. Das klingt nach einem Sakralraum. Eine Kirche hat eine sakrale Bedeutung, die man schänden kann. Was ist denn für Sie, Herr Vesper, die Würde des Deutschen Bundestags – und wie wäre die zu verletzen?
Vesper Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Sakralbauten, die ihre Würde aus ihrer religiösen Bedeutung herleiten, und einem Parlament, das seine Würde vom Volk bezieht, das es vertritt. Ich nehme den Anspruch, die Würde des Parlaments zu wahren, selber natürlich sehr ernst. Wir haben bittere Erfahrungen gemacht, wo diese Würde mit Füßen getreten wurde. Nur glaube ich nicht, dass ausgerechnet dieses Projekt die Würde des Deutschen Bundestags gefährden würde. Wir sind souverän genug, die Herausforderungen, die von diesem Projekt ausgehen könnten, zu bestehen.
TH Geben wir uns einmal Mühe, Herrn Thierse zu verstehen. Kann es nicht sein, dass die ganze Ablehnung des Projekts mit den üblichen Medienreflexen von Politikern zusammenhängen, die Medien als Meinungsverstärker sehen, Demokratie als Mediendemokratie begreifen und bedienen wollen. Die aber jenseits dieser Instrumentalisierungen Angst haben, wenn Medien aus dem bekannten Rahmen fallen.
Vesper Ich würde das Ganze nicht so überhöhen. Zur Demokratie gehört, dass das Parlament öffentlich tagt. Das ist wirklich ganz normal. Den ganzen Prozess, den Sie gerade geschildert haben, finde ich spannend. Ich habe da eine gesunde Neugier zu sehen, wie das läuft. Und selbst wenn sich dann herausstellen sollte, dass an diesem einen Tage die Würde des Bundestages mit Füßen getreten würde, könnte man immer noch sagen, das war das erste und das letzte Mal. Man könnte die Konsequenz aus einer konkreten Erfahrung ziehen und nicht aus Prognosen, die von Ängstlichkeit geprägt sind und von den drei deutschen Grundsätzen:
Erstens, das haben wir schon immer so gemacht, zweitens, das haben wir noch nie so gemacht und drittens, da könnte ja jeder kommen.

Wetzel Wir appellieren an die Volksvertreter: Trauen Sie Ihren eigenen Worten. Und trauen Sie diesen Wählern, die sich einen Tag lang im ehemaligen Plenarsaal damit beschäftigen wollen. Unser Hauptanliegen, das in dem Plenarsaal zu machen, ist einmalig und nur bis zum September realisierbar. Die Doppelung zweier Sitzverteilung in den beiden Städten Bonn und Berlin wird es danach nicht mehr geben.
Zwischenruf vom Kanzler?
Vesper Was ich noch nicht richtig verstehe: Eine Debatte lebt von der Dynamik zwischen Redner und Publikum. Wie wollen Sie diese Wechselbeziehung einfangen? Mal sitzen da nur zehn Abgeordnete, mal gibt es ein volles Haus. Sie müssten nachstellen, wie der Kanzler gelangweilt seine Akten bearbeitet oder aufmerksam zuhört. Sie müssten insbesondere die Zwischenrufe mit aufnehmen. Wie soll das technisch gehen?
Kaegi
Bei einem Casting haben wir im Zuschauerraum Kopfhörer verteilt und Zwischenrufe nachstellen lassen. Das Interessante war, dass viel mehr Zwischenrufe aus dem Text heraus entstanden sind. Also nicht an den Stellen, wo wir am Ton gehört haben, jetzt wird dazwischen gerufen. Da haben die Teilnehmer nur «Heh heh heh» oder ähnliches gesagt, weil sie gehört haben, da entsteht Unruhe und jetzt muss ich auch Unruhe machen. Aber viele haben tatsächlich inhaltliche Zwischenrufe erfunden, weil sie dem Text sehr genau zugehört haben. Gerade wenn sich jemand bemüht, einen Text wie ein Simultanübersetzer nachzusprechen, kann man auch persönliche Haltungen dazu entwickeln.
Vesper Ein Zwischenruf dient dazu, einen Redner zu verunsichern oder ihn inhaltlich zu widerlegen, oder er soll einen schönen Gag platzieren. Ich bin selber begeisterter Zwischenrufer. Sie dürfen übrigens nicht den Fehler machen, nur auf die großen Debatten zu schauen. Etwa 80 bis 90 Prozent des Geschäftes im Parlament sind sehr sachlich geprägte Debatten, in denen überwiegend die jeweiligen Fachleute zuhören.
Kaegi Wieviel ist eigentlich bei den Redebeiträgen im Bundestag Improvisation, wieviel ist vorgeschriebener Text?
Vesper Das ist unterschiedlich. Es soll ja den einen oder anderen Abgeordneten geben, der frei sprechen kann. Auch wenn die meisten Manuskripte haben, gehört es doch zum Wesen einer Debatte, dass man wenigstens versucht, auf das Argument des Vorredners einzugehen.
TH Auf Ihre Argumente, Herr Vesper, hat Herr Thierse ja nun leider nicht gehört. Ist auch die kleine Bitte um ein Gespräch abschlägig beantwortet worden?
Lilienthal Er hat mit niemanden von uns geredet. Ich habe mit einem persönlichen Referenten von ihm gesprochen. Es ist doppelt lächerlich, weil Herr Thierse und ich uns kennen und selbst auf einer persönlichen Ebene eine Kontaktaufnahme offensichtlich nicht möglich ist.
Wetzel Herr Vesper, macht Ihnen das Reden im Landtag eigentlich Spaß? Schreiben Sie Ihre Reden selber?
Vesper Das ist wie im Theater: Manchmal macht es Spaß, manchmal nicht. Natürlich habe ich Redenschreiber, aber was ich sage, entscheide ich am Ende selbst. Wichtige Reden schreibe ich auch manchmal selber. Also, wenn ich bei Ihnen mal reden sollte zum Beispiel.
Lilienthal Wenn Sie normaler Bürger wären, welche Reden würden Sie gerne nachsprechen?
Vesper Da bringen Sie mich in Verlegenheit... Am liebsten meine eigenen. (allgemeine Heiterkeit)
Lilienthal Herr Vesper, wer ist ihr Lieblingspolitiker?
Vesper Willy Brandt.
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