Die Alltagsspezialisten

Mit wenig Geld, aber ausgeprägtem Sinn fürs Reale rückt die Freie Szene näher ans Stadttheater... / über Deadline u.a.

By Eva Berenth

01.09.2003 / Theater heute (Jahrbuch 2003)

Mit wenig Geld, aber ausgeprägtem Sinn fürs Reale rückt die Freie Szene näher ans Stadttheater heran. Ästhetisch allerdings nicht immer. Ein Rückblick auf einige Inszenierungen der letzten Saison.

"Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude", haucht Schillers Jungfrau von Orleans, als der schwere Panzer ihr zum Flügelkleide wird und ihre Seele selig entschwebt. "Nun ist’s gut", findet Kleists Penthesilea, nachdem sie sich eigenhändig das Schwert in die Brust gestoßen hat, und Strinbergs totentanzende Ehezombies mutmaßen hoffnungsvoll: "Vielleicht wenn der Tod kommt beginnt das Leben". Reich an erstaunlich zuversichtlichen letzten und vorletzten Worten ist die Dramenliteratur, unzählige vor Vitalität strotzende Schauspieler und Schauspielerinnen haben auf den Bühnen der westlichen Welt zur Erbauung ihres Publikums finale Seufzer und endgültiges Zusammensacken gemimt. Tod und Sterben: große welttheater-Menschheitsthemen.

Was aber ist mit dem ganz alltäglichen Sterben, den daran geknüpften Ritualen, kurz: dem Tod um bundesdeutschen Durchschnitt? Das freie Regie-Team Rimini-Protokoll misstraut dramatischen Entwicklungen und metaphysischen Sentimentalitäten. Deshalb greifen Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel in ihrem Dokumentationstheaterprojekt "Deadline" zur Fakten- und Zeugensammlung, arrangieren das statistisch Quantifizierbare, bebildern Funktionsweisen und lassen Vertreter des Systems ´Sterbenª zu Wort kommen. Allerdings sortieren sie ihre Gesichtspunkte nicht unter pädagogischen oder narrativen Gesichtspunkten, sondern lassen Wichtiges und Marginales, Privates und Allgemeines, Ironisches und Wahres schön gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Wer könnte mehr vom Tod erzählen als die, die regelmäßig mit ihm zu tun haben? Für "Deadline" engagierte Rimini-Protokoll Hans Dieter Ilgner, Bürgermeister a.D. und Bauherr eines "Flammariums", das im Gegensatz zum profanen Kematorium nicht nur die euphorischere Bezeichnung trägt, sondern auch den Leichnahm rückstandsfrei verbrennt. Weiter den Grabsteinmetz Hilmar Gesse und Hobby-Trauerredner Olav Meyer-Sievers, eine rumänische Begräbnisgeigerin vom Ohlsdorfer Friedhof, die lieber anonym bleiben möchte, und Alida Schmidt, Vorpräparandin im Medizinstudium und Besitzerin unkuscheliger Haustiere wie Schlangen und Insekten. Außerdem berichtet das greise Gründungsmitglied eines pro-Sterbehilfe-Vereins von der Videowand herab, dass ihm der Arzt von der Live-Teilnahme abgeraten habe, sein Zustand sei bereits bedenklich.

Auf der kühl mit Leuchtkästen, Screens und Vitrinen, später auch mit Sarg- und Grabkränzen zur Friedhofskapelle ausstaffierten Bühne berichten die Fachleute abwechselnd in knappen, perfekt übergeleiteten Szenen von ihrer Arbeit. Statistiken zum Tode kommuniziert Steinmetz Gesse als "Mann der Schrift" über buchstabenschablonen und Papptafeln, und Olav Meyer-Sievers lässt sich zu Demonstrationszwecken einen Leichengebiss-Stabilisator in die Mundhöhle schieben. die Friedhofsgeigerin berichtet, dass in Hamburg der einsame Beerdigungsspitzenreiter "Ave Maria" von Charles Gounod durch Hans Albers’ "La Paloma" und "Memory" aus "Cats" Konkurrenz erhält. Ob es nur ein makabrer Scherz ist, wenn Totengräber "bei Menschen, die in ihrem Leben sehr viel Konservierungsstoffe zu sich genommen haben, auch am Skelett noch Fleischreste finden?" Staunend betrachtet man so die Funde von den Nebenschauplätzen des Todes, lauter kulturelle Praktiken, die ihn verdrängen oder bannen helfen sollen. Auch "Deadline" muss ihn sich vom Leibe halten.

Doch eins erfährt man wirklich schauernd und ergriffen: Es gibt keine letzten Worte, wie die Sterbebegleiterin Sabine Herfurth nach dreißig Jahren Berufserfahrung in einer knirschenden Telefon-Tonaufnahme berichtet. "Ob als oder jung, ob Mann oder Frau – alle schreien nur nach Mamma. Das ist irre, nicht?" fragt sie in die Stille. Ist es.

Geheimtipp werden

Ironischerweise war "Deadline" selbst eine Beerdigung und die letzte Produktion, die im Neuen Cinema am Steindamm stattfand. Noch vor Spielzeitende musste die avancierte Nebenspielstätte des Hamburger Schauspielhauses, in die Tom Stromberg seine Neigung zum Experimentellen kompromissbereit ausgelagert hatte, für immer schließen. Und ebenfalls ironischerweise was "Deadline" die erste Produktion, die Rimini-Protokoll im Stadttheater-Rahmen inszenierte, als Koproduktion des Schauspielhauses mit dem Schauspiel Hannover und dem Berliner Hebbel-Theater. Das freie Theater ist tot – es lebe das freie Theater?

Wer sich in der vergangenen Saison in der deutschen Freien Szene umsah, kapierte ziemlich schnell: Freie Szene und Stadttheater kommen sich immer näher – aber keinesfalls überall und in jeder Hinsicht. Hier wie dort wird nämlich in mindestens zwei Ligen gespielt. Glücklich sind die Theatermacher, die sich ins eher urban geprägte Netzwerk einklinken können, das die führenden freuen Spielstätten wie die Sophiensaele in Berlin, das Düsseldorfer Forum Freies Theater, der Frankfurter Mousonturm, aber auch das Podewil Berlin, Kampnagel Hamburg, Theater Rampe Stuttgart oder die halbfreien Häuser TIF Dresden und Theaterhaus Jena in wechselnden Konstellationen miteinander verbindet. Zwar ist auch dort das Geld knapp, doch wer die Adressen solcher finanziell zumindest abgesicherten Spielstätten in seine Förderungsanträge schreiben kann, verbessert seine Chancen gewaltig. Außerdem kooperieren eben auch zunehmend Stadttheater – meistens die avancierten, dem experimentellen zugewandten – mit den freien Häusern oderk opieren ihrerseits untereinander die effizienten Koproduktionsmodelle der Freien: Aus ehemals ideologischen Fronten sind längst temporäre Bündnisse geworden (vgl. das Gespräch in diesem Jahrbuch auf S.64ff). Viel schwerer haben es da – zweite Bundesliga – freie Grupen und Theater, die in Städten und Provinzen arbeiten, in denen weder Spielstätten gefördert werden noch Filialen jener Netzwerke existieren: Man wird überregional kaum wahrgenommen oder schmort schnell im eigenen Saft. Einzige Auswege: Geheimtipp werden oder wegziehen.

Echte Menschen

Probleme, mit denen sich die Gießen-Absolventen Haug, Kaegi, Wetzel und (der an "Deadline" nicht beteilgte) Bernd Ernst nicht allzu lange herumschlagen mussten. In den vergangenen drei Jahren sind sie in verschiedenen Team. Konstellationen als "Rimini-Protokoll" oder "Hygiene heute" in der Freien Szene schnell, durchschlagend und über Deutschland hinaus bekannt geworden. Spätestens, seit Wolfgang Thierse beim letzten "Theater der Welt" 2002 ihrem Repräsentative-Demokratie-Projekt "Deutschland 2" den alten Bonner Plenarsaal verweigerte, standen sie in allen Feuilletons. Sie haben mit Spezialisten ebenso gearbeitet wie mit theatralen Ready-mades oder gelenkter Zuschauerwahrnehmung (Kopfhörer, Ferngläser) und ein schier unerschöpfliches Interesse an Welt bewiesen: für den Wiener Kongress ("Europa tanzt", Hygiene heute), Schweizer Brauchtum ("Shooting Bourbaki", Rimini-Protokoll), Hannover ("Sonde Hannover" , Rimini-Protokoll), arbeitslose argenitinische Portiers ("Torrero Portero", Stefan Kaegi) oder die Entsendung von Dieter Dorns "Faust"-Inszenierung ("Physik", Hygiene heute). Außer Dieter Dorn war das alles bislang im Theater noch nicht vorgekommen – jedenfalls nicht im Stadttheater.

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